Sophia Benedict

DOKTOR; LEHREN SIE MICH SINGEN

Tagebuch der Psychoanalyse einer Patienti

ISBN: 9783743191754

 

 

 

 

 

 

VORWORT
Es geschah vor vielen Jahren: Ich war außerordentliche Hörerin einer Vorlesung über Psychoanalyse und verließ gerade die Wiener Hauptuni, als dieses Tagebuch zu mir kam. Eine Studentin meines Alters trat auf mich zu und fragte auf Russisch, ob ich nicht mit ihr einen Kaffee trinken wolle. Wir gingen über die Straße ins Neugebäude, fuhren mit dem Paternoster in die Mensa und machten es uns auf der Terrasse bequem. Erst jetzt stellte sie sich vor. „Ich sehe, dass Sie Ihre Vorlesungen aufnehmen, was machen Sie denn mit den Aufnahmen?“ Ich erklärte ihr, dass ich Journalistin sei und für eine russische psychologische Fachzeitschrift arbeite, also zeichnete ich die Vorlesungen einfach für alle Fälle auf. „Das habe ich mir gedacht“, sagte die Frau erfreut. „Ich habe Beiträge von Ihnen gelesen, war mir aber nicht sicher, ob Sie es wirklich sind, deshalb wollte ich mit Ihnen reden. Übrigens bin ich auch Journalistin. Und Übersetzerin. Nur…“ Sie stockte, senkte den Blick, entnahm ihrer Tasche ein umfangreiches Manuskript und legte es auf den Tisch. Auf meinen fragenden Blick antwortete sie zögernd: „Das ist die Geschichte meiner Psychoanalyse. Mein psychoanalytisches Tagebuch. Ich möchte, dass Sie daraus ein Buch machen.“ Sie verstummte, dann sah sie sich in der Mensa um und fügte hinzu: „Es könnte eventuell für Psychologiestudenten interessant sein…“ Ich war überrascht und wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Frau fuhr fort: „Sie wollen sicher wissen, warum ich das nicht selbst mache. Das ist schnell erklärt. Dieses Material – darf ich es so nennen? – ist, wie Sie sicher verstehen, viel zu persönlich, es ist für mich viel zu schwierig, die notwendige Distanz zu gewinnen, ohne die ein gutes Buch unmöglich ist…“  
Natürlich konnte ich das verstehen. Aber der Anblick der dicken Mappe weckte in mir keine richtige Begeisterung – wozu mich mit einem fremden Manuskript befassen, wo doch in meinem Kopf Tausende eigene, noch nicht realisierte Ideen herumschwirrten? Während ich überlegte, wie ich diesen ehrenhaften Vorschlag höflich ablehnen konnte, plätscherte das Gespräch weiter, wir sprachen über unser Land, freuten uns, dass im neuen Russland die Psychoanalyse eine neue Blüte erlebte, obwohl noch viel Zeit vergehen wird, bis auch in unserer Heimat eine erste Generation wirklicher Fachleute auf diesem Gebiet heranwächst. Es zeigte sich auch, dass das Schicksal uns fast an dieselben Orte geführt hatte. Beide kamen wir in der Ukraine zur Welt, lebten einige Zeit im Kaukasus, dann studierte ich an der Universität von Kasan und sie in Gorkij, dem heutigen Nishnij Nowgorod. Beide Städte liegen an der Wolga. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass das Manuskript schließlich in meiner Tasche landete. Ich versprach, es mir anzusehen. „Machen Sie damit, was Sie wollen! Ich verlasse Österreich.“ „Und wohin fahren Sie?“, war meine bestürzte Frage. „Ich kehre nach Russland zurück. Dort bekomme ich eine gute Arbeit. Und noch etwas… Ich habe jemanden kennengelernt, der… Es ist allerdings noch zu früh, darüber zu reden… Österreich ist ein schönes Land, aber ich muss heim!“ „Wie kann ich Sie finden, um Ihnen Ihr Manuskript zurückzugeben?“ „Sie müssen es mir nicht zurückgeben. Es gehört Ihnen! Machen Sie damit, was Sie wollen!“ Bevor sie sich endgültig verabschiedete, legte sie ihre Hand auf die Mappe und sagte leise: „Wer ideale Eltern hat und selbst nie etwas tat, dessen er sich später schämte, werfe den ersten Stein!“
Lange nach dieser Begegnung warf ich einen ersten Blick in das Tagebuch. Es zog mich von der ersten Zeile an in seinen Bann. Einige darin dargelegte Gedanken waren mir so vertraut, dass ich Ideen für neue Sujets für kleinere und größere Erzählungen bekam. Das war Magie!
Dann vergingen nochmals einige Jahre, bis ich den unüberwindlichen Wunsch verspürte, der Bitte meiner flüchtigen Bekannten nachzukommen und aus ihren Aufzeichnungen ein Buch zu machen. Im Lauf der Arbeit wuchs ich – wie das oft passiert – mit der Protagonistin zusammen, mich rührte die Seele des armen Kindes, das sich nach nichts so sehr sehnte als nach Liebe. Erst jetzt verstand ich, warum sie nicht selbst ihr Buch hatte schreiben wollen. Sie wollte sich sich vor dem erneuten Schmerz schützen, aber nicht nur das. Sie fürchtete sich auch vor der Zurückweisung ihrer viel zu großen Offenherzigkeit. Viele Leser werden erschrecken, wenn ihnen bewusst wird, was aus Erwachsenensicht anscheinend harmlose Handlungen oder Worte in einer Kinderseele bewirken, was sie für die Zukunft eines Kindes bedeuten können. Nicht alle Menschen können sich mit den Schuldgefühlen konfrontieren, die eine derartige Schilderung bei ihnen wecken mag. Wer aber den Mut hat, das alles zu durchleben, dem werden sich neue Horizonte eröffnen.  
Die Ich-Erzählerin des Tagebuchs durchlebte während ihrer Analyse großen Schmerz, sie musste erneut all das Furchtbare durchmachen, was sie schon einmal erlebt hatte und was sie hatte erkranken lassen. Wenn diese Tiefenschichten sich auftaten, fand sie sich wiederholt am Rande des Abgrunds wieder, aber das musste so sein, weil das Leid, das im Unbewussten steckengeblieben war, sie nur auf dem Weg verlassen konnte, auf dem es zu ihr gekommen war. Die Patientin blieb heil und ganz, weil sie auf diesem Weg nicht alleine war. Hinter ihr stand ein Mensch, er nahm Anteil an ihrem Leid und wusste ganz genau, wie und wann das Sicherheitsnetz auszuwerfen war, damit die Klientin nicht in den Abgrund stürzte. Er gab ihr neue Kraft, erweckte in ihr die souveräne Persönlichkeit, die sie eigentlich immer gewesen war. Mit seiner Hilfe konnte sie die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor sich selbst überwinden. Ganz nach Freud gewann sie in der Folge ihre Lebensfreude wieder, die Fähigkeit, sich selbst zu lieben und die Fähigkeit zu arbeiten.
 
Dieses Tagebuch ist kein Protokoll einer Analyse nach Freud, es handelt sich um Tagebuchaufzeichnungen, die parallel zu jener Hauptsache geführt wurden, die in der Analyse passierte, es ist eine Weiterführung der Gespräche mit dem Psychoanalytiker. Aus fachlicher Sicht sind die akribisch aufgezeichneten Träume hochinteressant, was fehlt, ist jedoch eine ausführliche Analyse der Träume, die leider jenseits des Tagebuchs passierte. Diese Deutung ist nur in Ansätzen vorhanden. Das ist schade, spielt doch gerade die Analyse der Kliententräume eine der Schlüsselrollen für die Psychoanalyse. Dafür aber sehen wir, wie sich im Lauf der Verbalisierung der Gedanken und Gefühle neue wichtige Schichten des Unbewussten auftun.  
Zu vermerken ist auch, dass die Tagebuchautorin ihre Aufzeichnungen verfasste, wenn ihr danach zumute war, ohne sich das Ziel zu setzen, daraus ein Buch über ihre Psychoanalyse zu machen. Diese Idee kam erst nach Abschluss der Analyse, aber auch dann delegierte sie diese Aufgabe an mich. Was heißt nach Abschluss? Bekanntlich ist eine Psychoanalyse nie beendet. Wenn ein Mensch diese Fertigkeit einmal erworben hat, steht sie ihm immer zur Verfügung.


 
 
1992  

Nein, in meinen Adern fließt kein Blut, in ihnen
 fließt der Fluss meiner Kindheit… So sicher
 wie die Sonne Schatten erzeugt,  
so formt das Leid den Menschen…


 
2. Jänner 1992
Warum bin ich so unglücklich? Warum bin ich so abhängig? Warum bin ich so verletzlich? Wovor fürchte ich mich? Eine Mauer… Sehnsucht nach Freiheit… Unsere Gefängnisse sind in uns selbst… Aus dieser Welt davonlaufen… Ins Krankenhaus, ins Gefängnis, ins Kloster … Aber gibt es dort etwa Ruhe? Wohin will ich? Was will ich?
Lieber Doktor, so helfen Sie mir doch!
Alle sagen, dass ich mein Unglück selbst erzeuge, dass ich spinne, ich, die doch alles hat – eine Familie, eine Wohnung und sogar ein Auto. „Was brauchst du denn noch?“, fragen sie. Aber warum bin ich dann so unglücklich? Und ist das etwa wirklich alles, was ein Mensch zum Glücklichsein braucht? Niemand versteht mich. Ich verstehe mich selbst nicht. Meine Umgebung verurteilt mich. Doch strenger als alle anderen urteile ich selbst. Ein Gefühl der Schuld… Ein schreckliches Schuldgefühl. Ich trage die Last der Jahre. Ich verspüre tödliche Müdigkeit. Gleichzeitig fühle ich mich wie ein Kind – abhängig, nicht in der Lage, selbst für mich entscheiden zu können. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass ich in einer Grube sitze, in einem staubigen Sack, in einem Brunnen. Man hat mich nackt dem Frost ausgesetzt. An meinem Unglück bin ich selbst schuld. Ich bin unfähig, glücklich zu sein. Retten Sie mich vor mir selbst!
Lieber Doktor, Sie sagen, ich soll herausfinden, woher das kommt. Vielleicht war früher alles ganz anders. In der Kindheit, da gab es Liebe… Da gab es Angst…
Angst lähmt, raubt einem den Atem. Mein Mann liebt mich nicht. Sagt mir keine zärtlichen Worte. Auch der Sohn leidet unter seiner fehlenden Liebe, und das verschlimmert mein eigenes Leid. Ich kenne Menschen, die viel Leid erfahren haben, aber sie haben ihre Lebensfreude nicht verloren, sie wollen leben. Aber ich will sterben. Ich will es seit langem. Ich habe es schon versucht. Und dennoch lebe ich… Es gibt auch lichte Momente, in denen Hoffnung aufkeimt, und dann glaube ich, dass sich eines Tages alles ändern wird. Es muss doch im Leben eine Art Gleichgewicht geben. Wenn ein Mensch viel mitgemacht hat, kommt auch eine Zeit des Glücks…
 
14. April 1992
Nun komme ich schon fast vier Monate lang zweimal pro Woche zu Ihnen.
Eigentlich wollte ich von Ihnen nur eine pädagogische Beratung. Mein Sohn ist ein sehr lieber Junge, aber er nimmt leider seine schulischen Verpflichtungen nicht ernst genug. Neues Wissen nimmt er im Vorübergehen auf, ihn interessiert alles. Mit Ausnahme der Dinge, die er in der Schule lernen soll. Dort langweilt er sich, Hausaufgaben machen langweilt ihn auch. Er findet immer irgendeine interessantere Beschäftigung. Ich muss bei ihm sitzen. Sobald ich ihm den Rücken kehre, macht er etwas anderes… Im Unterricht verbessert er die Lehrerin. Natürlich wird sie wütend. Wenn sie dann mir gegenüber ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt, würde ich am liebsten im Erdboden versinken. Ich fühle mich wieder wie ein kleines Mädchen, das an allem schuld ist. Ich vergehe vor Scham und vergrabe mich in meiner Verzweiflung.
Ich weiβ nicht, wie ich meinem Jungen helfen kann. Mein Mann ist weder mir noch ihm eine Hilfe. Die Erfolge des Sohnes sind das Letzte, was ihn interessiert. Während ich als fordernd und böse dastehe, ist er der liebe Papa. Gut möglich, dass der Sohn die Teilnahmslosigkeit seines Vaters für Güte hält. Letztendlich stehe ich alleine da – alleine gegen den Rest der Welt. Verzweifelt versuche ich, für die Zukunft meines Sohnes zu kämpfen – gegen ihn und seinen Vater. Ich begreife, dass ich es nicht richtig mache, aber ich weiß nicht, was ich tun soll.
Sie sagen, mein Unglück bestehe darin, dass ich die ganze Verantwortung auf mich nehme, so mache ich es den anderen leicht, sie einfach zurückzuweisen. Aber hieße das, dass die anderen sie übernähmen, wenn ich sie einfach von mir wiese? Es ist ein Teufelskreis. Die Einsamkeit macht mich verrückt. Ich bin einsam unter Menschen. Unter nahestehenden Menschen. Diese Menschen erscheinen mir wie Fremde, denn mein Leid berührt sie nicht.
Als ich zu Ihnen kam, begann ich Ihnen von meinem Sohn zu erzählen. Doch wie kann ich über ihn reden, wenn ich nicht unser ganzes Leben einbeziehe? Ich verstand sehr gut, dass ich selbst einen Ausweg finden würde, sobald sich in mir etwas veränderte. So wurde aus der Erziehungsberatung eine Psychoanalyse. Ich bin darin eingetaucht, und jetzt ertrinke ich in meinen Erinnerungen… Lieber Doktor, lehren Sie mich das Schwimmen…?
In Ihrem Buch über Scheidungskinder schreiben Sie von Müttern, die ihr ganzes Leben auf ihr Kind und dessen schulische Erfolge konzentrieren. Vielleicht passiert derartiges nicht nur nach einer Scheidung… Wenn eine Frau einmal Pech hat, will sie sich vor einem ähnlichen Ereignis schützen: Zumindest als Mutter will sie jetzt nicht versagen. Wahrscheinlich durchlebe ich etwas Vergleichbares. Mein Mann ist auf Reisen, doch selbst wenn er zu Hause ist, ist er abwesend – innerlich ist er weit weg von uns…
Sie halten Selbstverleugnung nicht für Heldentum. Wenn mehrere Wasserläufe, die eine große Anzahl von Feldern bewässern, sich zu einem Strom vereinen, kommt es zu einer Überschwemmung… Wahrscheinlich haben Sie Recht, doch in mir gibt es so viel Angst… Ich kann sie nur schwer in Worte fassen…
Zu meinem Sohn kann ich nicht streng sein. Ich verliere oft die Fassung, aber in mir ist keine Strenge. Ich habe Angst, etwas zu fordern. Angst, zum Richter meines Kindes zu werden, so wie meine Eltern es wurden, meine Stiefmutter und meine Lehrer… Sie sagen, dass ein übergroßes Bedürfnis nach Harmonie nicht weniger zerstörerisch ist als offene Aggressivität… Vom Verstand her sehe ich das ein, aber Wissen und Können sind zwei verschiedene Dinge. Mein Bedürfnis nach Harmonie ist stärker als ich. Ich habe panische Angst vor Fehlschlägen, doch sie folgen mir wie treue Hunde. Wenigstens scheint es mir so. Wozu aus einem Abgrund hochkommen, wenn ich doch sofort in den nächsten falle? Ich fühle mich wie auf glühenden Kohlen, während ich mein Leben vor Ihnen ausbreite. Ängstlich erwarte ich Ihre Vorwürfe. Dabei weiß ich, dass die Angst mir nicht weiterhilft, aber sie ist trotzdem da. Sie hören mir zu und Ihre Augen sind voller Mitgefühl. Sie nehmen meine Empfindungen ernst. Bisher habe ich immer zu hören bekommen: „Was für ein Unsinn, du hast doch alles, was fehlt dir denn?!“ Das haben meine Freundinnen und sogar meine Mutter gesagt…
 
15. April 1992
Der erste Sieg! Aber der Reihe nach.
Wie Sie bereits wissen, ist mein Mann ein passionierter Skifahrer, wohingegen ich fast gar nicht sportlich bin. Erst mit vierzig mit dem Skifahren zu beginnen, ist schon riskant genug. Man braucht dafür eine gewisse Forschheit, die mir fehlt. Mein Mann will, dass wir zusammen Ski fahren. An sich eine lobenswerte Absicht. Leider will er mich mit dem Argument motivieren, dass der Hauptgrund für die Scheidung seiner Eltern darin bestand, dass seine Mutter nie mit seinem Vater Skifahren ging.
Mein Gatte zeichnet sich – vorsichtig ausgedrückt – nicht gerade durch Großzügigkeit aus. Dennoch gibt er bereitwillig Geld für alles aus, was ihm selbst Vergnügen bereitet. Einer dieser Bereiche ist der Skisport. Ich konnte kaum überlegen, was ich wollte, als er auch schon einen Skikurs bezahlt hatte.  
Begeistert von meinem ersten Erfolg will ich am zweiten Tag noch vor Unterrichtsbeginn auf eigene Faust eine Abfahrt auf der Anfängerpiste wagen. Dieser Versuch endet damit, dass ich auf einen kräftig gebauten Mann stürze, der am Pistenrand steht. Mit einem Auge stoße ich gegen sein Kinn. Zum Glück wird der Mann nicht verletzt, mir aber platzt das obere Augenlid. Blut läuft mir übers Gesicht. Der Mann nimmt mich an der Hand und bringt mich in das nahe gelegene Hotel. Als wir vor Kälte dampfend eintreten, sagt einer der Gäste im strengen Arztton, wir sollten uns nicht von der Stelle rühren. Und läuft die Treppe hinauf. Kurz darauf kommt er zurück, setzt mich auf eine Stufe, stillt mit einer Binde das Blut und klebt ein hauchdünnes Pflaster auf den Riss auf meinem Augenlid. Er sagt, ich dürfe eine Woche lang kein Wasser auf das verletzte Lid bringen.
Im Nachhinein muss ich zugeben, dass die Wunde ohne Narbe verheilt ist. Glück im Unglück.
Am nächsten Tag erwache ich mit einem blauen Auge und einem geschwollenen Gesicht. Mein Mann und mein Sohn gehen Skifahren. Ich frage mich, warum der Vater meines Sohnes sich nicht damit abfinden konnte, dass seine Frau nicht Skifahren wollte. Was ist daran so schlimm? Letzten Endes ist Skifahren nicht wie Rudern, wo jeder ein Ruder in Händen hält. Warum darf ich nicht mit einem Buch in der Sonne sitzen, das Leben genießen und dabei zusehen, wie wagemutig mein Mann und unser Sohn den Berg herunterfahren? Ist das ein so großes Vergehen?
Später habe ich Skifahren gelernt, aber ich habe kein Talent dazu. Meinem Sohn zufolge fahre ich wie ein Auto ohne Benzin. Mein Mann gibt sich damit zufrieden. Hauptsache, ich sitze nicht mit einem Buch in der Sonne. Es ist mir unbegreiflich, wie es meinem Mann Freude bereiten kann, an jeder Kurve auf mich zu warten und zu beobachten, wie ich mühselig im Zickzack vor mich herfahre.
Meine Schwiegermutter wollte nicht Skifahren, weil sie befürchtete, infolge eines Sturzes eine bleibende Behinderung davonzutragen. Genau davor fürchte ich mich auch. Wo man mich nicht einmal als Gesunde besonders schätzt. Unterdessen bekommt mein Sohn einen Preis nach dem anderen, und ich bin sehr stolz auf ihn. Ich habe jedoch trotz meiner bereits erwähnten mehr als bescheidenen sportlichen Erfolge die Atmosphäre der alpinen Skiorte immer geliebt. Mit dem Lift auf den Berg fahren, mich mit einer Tasse Tee in die Sonne setzen und dabei die festlich bunt gekleideten Skifahrer und ihre eleganten Bewegungen beobachten – ist das nicht schon ein großes Glück? In solchen Momenten kommt mir das Leben herrlich vor.
Diese Geschichte wird später eine Fortsetzung erfahren. Nach einiger Zeit erzähle ich sie nach dem Essen recht humorvoll und ende mit den Worten: Als ich am Morgen einen großen blauen Fleck unter meinem Auge entdeckte, schrie ich: „Ich hasse dich und deine Skier!“ Meine Schwiegermutter sieht mich erschrocken an und sagt ernst: „Waaas?!!! Wie kannst du nur so etwas sagen! Warum hast du ihn geheiratet, wenn du ihn nicht liebst?“
Sie lachen…
Das ist die Vorgeschichte der eigentlichen Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte. Wie Sie wissen, verbrachten wir die Osterferien in der Steiermark. Das kleine Dorf lag inmitten von Bergen, die mit dunklen Wäldern bedeckt waren. Anfangs fühlte ich mich wunderbar und erfreute mich an allem, was mich umgab, doch am zweiten Tag zerbrach etwas in mir. Weder der Schnee noch die Sonne noch die Fortschritte meines Sohnes bereiteten mir Freude. Alles um mich herum langweilte mich tödlich, die Menschen wurden uninteressant, mir wurde übel, und im Herzen spürte ich die wohlbekannten Nadelstiche. Ein Gefühl schrecklicher Müdigkeit lähmte mich. Nur mit Mühe hielt ich mich auf den Skiern, fiel immer wieder hin und bekam am ganzen Körper blaue Flecken. Am nächsten Tag verschlimmerte sich mein Zustand noch mehr. Obwohl mein Mann unzufrieden war, blieb ich nach dem Mittagessen im Tal. Auch am folgenden Tag fuhr ich nirgendwo hin. Ich ging im Schnee spazieren und schaute mir die Berge an, die unter einer dunklen Decke von hundertjährigen Fichten lagen. Diese Fichten wirkten auf mich besonders abstoßend. Die Berge erdrückten mich…
Was war nur geschehen? Wodurch verwandelte sich die Freude plötzlich in eine derart tiefe Niedergeschlagenheit? Denn es war nichts vorgefallen. Mit meinem Sohn war alles in Ordnung, mit meinem Mann gab es keinen Streit. Das heißt, er gab mir keinen Grund, unzufrieden zu sein. Übrigens streiten mein Mann und ich nie. Wie könnte man auch mit einem Menschen streiten, der immer schweigt? Was war also passiert? Woher kam dieser Schmerz? Diese Abgestumpftheit?
Ach, wenn ich doch jetzt nur mit dem Doktor sprechen könnte, dachte ich. Aber was hätte ich Ihnen sagen können? Wo ich doch selbst nicht wusste, was mit mir los war. Also versuchte ich mir vorzustellen, was Sie gesagt hätten… Zuallererst hätten Sie mich gefragt, an wen oder woran mich diese Berge und Fichten erinnerten. Aus den Tiefen meines Gedächtnisses, aus der fernen Vergangenheit tauchte die Erinnerung auf…
Ich war acht Jahre alt. Wir waren gerade nach Worochta umgezogen. Dieses Städtchen in den Karpaten wurde später ein bekanntes Skigebiet. Vorher hatten wir in Kowalewka im Bezirk Stanislawsk gelebt. Inmitten von lichten Hügeln, auf denen unter dem endlosen blauen Himmel leise die Weizenfelder wogten. Sie wurden von langen Reihen schlanker zartgrüner Birken gesäumt. Am Feldrand schimmerten Mohn- und Kornblumen, die hellen Köpfchen der Margeriten schaukelten im Wind. Falls es irgendwo ein Paradies gibt, kann ich mir keinen herrlicheren Platz dafür vorstellen als diesen. Worochta lag in Berge gebettet, in denen dunkle Tannen wuchsen. Tannen wuchsen auch auf dem Schulhof, am Wegrand und hinter dem Haus, in dem wir lebten. Alles hier war fremd. Selbst die Eltern hatten sich durch den Umzug verändert und waren mir ein wenig fremd geworden …
Diese Erinnerungen taten mir so weh, dass ich aufstöhnte. Die Müdigkeit wurde unerträglich. Ich wollte mich in den Schnee legen und nur noch sterben. Mühsam drang ich immer weiter in die Vergangenheit vor, war auf der Suche nach den Sünden, für die Gott mich strafte. In solchen Momenten einer schweren seelischen Belastung kommt mir oft vor, ich hätte eine von Gott auferlegte Strafe zu verbüßen. Denn eigentlich habe ich wirklich alles, wovon Millionen Frauen nur träumen können. Mir fehlt nur eines – die Lebensfreude. Ich mag undankbar erscheinen. Und jetzt gehe ich an einem herrlichen sonnigen Tag in den verschneiten Alpen spazieren. Ist das nicht an sich schon großartig? Warum nur fühle ich mich so unglücklich?
Was ist damals in Worochta passiert?
Ach ja… Ich schäme mich, darüber zu sprechen. Sie würden sagen, ich soll es trotzdem versuchen.
Eines Nachts wurde ich von seltsamen Lauten geweckt. Ich sprang aus dem Bett und machte das Licht an, aber Mamas gebrochene Stimme befahl mir, es auszumachen. Im fahlen Mondlicht, welches durch das Fenster fiel, sah ich meine Mutter, die sich unter Stöhnen im Bett wälzte. Ihr Atem ging schwer, und sie wiederholte unablässig die Worte: „Ich sterbe, ach, ich sterbe!“
Mama bat um Wasser, aber der Eimer war leer. Da nahm ich die Teekanne und lief im Nachthemd die Treppe hinunter, um das Haus herum und den Pfad entlang bis zur Quelle. Dieser schmale Pfad war umgeben von jahrhundertealten Tannen, ihre piksenden Zweigtatzen verkrallten sich in meinem Nachthemd, zerkratzten mir Arme und Beine. Sogar tagsüber fürchtete ich mich hier, jetzt aber trieb mich eine andere Angst voran. Ich rannte, ohne auf den Weg zu achten. Meine Mama würde sterben, wenn ich nicht rechtzeitig mit dem Wasser zurückkäme… Das Wasser floss in einem dünnen Strahl, es dauerte eine Ewigkeit, bis der Teekessel gefüllt war. Als ich zurückkam, stöhnte Mama noch immer und wälzte sich hin und her. Immer wieder stieß sie die Worte “ich sterbe“ hervor. Anfangs trank sie das Wasser in gierigen Schlucken. Dann wollte sie, dass ich ihr den Rest auf die Brust goss.
Am nächsten Morgen hatte sie blaue Flecken unter den Augen. Was musste ich erdulden? Neben der Angst quälte mich noch ein anderes Gefühl… Ach ja… Natürlich… Das war ein Schuldgefühl. Ich empfinde es immer noch…
Diese Fichten, diese schwarzen Alpenfichten… Sie erinnerten mich an die Bäume von damals… Sie riefen in mir diese schreckliche Nacht in den Karpaten wach. Lange sah ich sie an, voller Verzweiflung, dann ließ ich mich zu Boden fallen und vergrub mein Gesicht in einer Schneewehe… Ich weinte und stieß stumme Schreie aus. Lieber sterben als einen solchen Schmerz ertragen müssen! Ich kann nicht sagen, wie lange ich so dalag, doch nach und nach wurde meine Verzweiflung schwächer und der Schmerz verstummte. Ich stand auf und ging zum Lift. Unterwegs fragte ich mich, was Sie wohl sagen würden, wenn ich Ihnen davon erzählte. Würden Sie mich verurteilen? Wofür? Mir schien, es müsste einen Grund geben.
Ich erinnere mich auch an einen schrecklichen Vorfall, der kurz nach diesem nächtlichen Albtraum passierte. Unser Schäferhund Palma hatte eine Katze zerfleischt. Schuld daran waren ich und mein Bruder. Aber da mein Bruder zwei Jahre jünger war als ich, traf mich die Schuld ganz allein.
Palma hatte die Angewohnheit, Katzen zu jagen, aber die waren immer schneller und schafften es, Palma zu entwischen. Wir hatten gedacht, dass auch diese Katze entwischen und sich verstecken würde, aber sie schaffte es nicht. Es passierte auf der Loggia unseres Hauses, welches an einem steilen Abhang stand, an dessen Fuß ein Gebirgsbach tobte.
Wir zogen die Katze aus Palmas Maul und legten sie auf den Boden. Sie keuchte. Mein Bruder und ich weinten. Wir begossen sie mit Wasser, in der Hoffnung, dass sie davon wieder gesund würde. Das Schuldgefühl erstickt mich heute noch. Weil wir, nur so zum Spaß, zu Palma gesagt hatten: „Fass!“
Sie meinen… Nein, das ist mir nie in den Sinn gekommen… Ja, ich habe die Katze mit Wasser begossen, so wie ich in jener schrecklichen Nacht Wasser auf die Brust meiner Mutter gegossen hatte. Mama wurde wieder gesund, die Katze nicht. Das Gefühl, eine schreckliche Sünde begangen zu haben, verfolgt mich mein Leben lang…
Ja, ich habe von der ödipalen Liebe gehört, aber muss sie alle betreffen? Mich doch nicht! Als in meiner Erinnerung diese Geschichte aus Worochta hochkam, hatte ich das Gefühl. Nein, das kann nicht sein! Ich liebte meinen Vater so sehr, dass ich mir wirklich wünschte, auch er möge einzig und allein mich lieben. Nein, auf meinen Bruder war ich kaum eifersüchtig. Ob Sie es glauben oder nicht, auf ihn war ich so gut wie nie eifersüchtig. Sie glauben mir nicht? Nun gut. Am meisten war ich also auf… Mama eifersüchtig. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass er Mama ganz und gar nicht liebte.
Plötzlich erinnere ich mich ganz deutlich an diese Eifersucht. Ich war mir ihrer nicht bewusst, aber sie war in mir. In manchen Momenten wünschte ich mir, dass Mama uns verließe, damit niemand mir Papa wegnähme. Das ist schwer zu glauben, dennoch ist es wahr. Schließlich passierte es, dass mein Vater in jener Nacht meinen verbrecherischen Wunsch zu erfüllen drohte, denn er hatte beschlossen, meine Mutter aus unserer Beziehung zu „entfernen“, damit wir zu zweit sein konnten…
Es waren flüchtige und unbewusste Wünsche, die mir aber Angst und ungeheure Schuldgefühle einflößten. Sie durften auf keinen Fall Wirklichkeit werden! Ich liebte Mama sehr. Aber es ärgerte mich einfach, wenn Papa mit ihr und nicht mit mir ins Kino oder zu Freunden ging.
Darin liegt also der Grund für dieses schreckliche Schuldgefühl, das mich mein Leben lang verfolgt!  
Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger lag es mir auf der Seele. Nach einiger Zeit war ich gänzlich beruhigt. Die auf mich einströmenden Erinnerungen machten mich zwar traurig, aber Traurigkeit ist keine Angst. Es heißt, damit könne man leben. Die Welt wurde wieder bunt, der Himmel klarte auf, die Sonne blendete nicht mehr die Augen, sondern strahlte in sanftem, gütigem Licht. Sie schien nicht mehr nur für die anderen, sondern auch für mich.
Ja, jetzt weiß ich bereits, dass es im Unbewussten keine Vergangenheit gibt. Alles, was sich dort abspielt, bleibt gegenwärtig. Diese seelischen Mechanismen dienen der Bewahrung unbewusster Erfahrungen, aus denen sich unsere