Ich habe alles verstanden, Mama!

 

ICH HAB ALLES VERSTANDEN, MAMA!

 

„Geh’ma zu mac-Donalds!“

„Vielleich besser zum Kebab?“

„Nein, besser mac-Donalds!“

„Also, gut!“

„Aber wenn du…“

„Gut, gut, geh’ma zum Mac!“

„Hast du gestern was abgekriegt, als Du spät nach Hause gekommen bist?

„Nein, meine Mutter hatte keine Zeit, mein kleiner Bruder war krank, sie hat sich um ihn gekümmert.“

- Deine Mutter ist okay! Meine beginnt sofort zu schreien, deine aber…

„Es kommt vor, dass meine auch… Nein, sie tut nicht schreien, sie kann einen aber so anschauen… Manchmal denke ich, es wäre mir lieber, wenn sie brüllte.“

„Ist sie streng?!“

„Sie hat es schwer ohne Vater“.

„Wofür hat man deinen Vater..?

„Er hat ein Fläschchen Parfüm mitgehen lassen… Er wollte meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk machen“.

„Lüg nicht! Für eine Flasche Parfüm kommt keiner in Knast!“

„Tja…Er hat die Verkäuferin angeschrien. Sie war erschrocken. Die Polizisten haben dann bei meinem Vater ein Taschenmesser gefunden…

„Die Österreicher stehlen auch, ich habe selber gesehen...“

„Das sind Österreicher…“

 

Mac-Donalds war voll. Mit Mühe drängte ich mich zum kleinen Tisch am Fenster durch. Ein Bursche hat mir Bein gestellt, ich bin fast gestürtzt, zusammen mit dem Tablett. Also, ist mir ein tschetschenisches Schimpfwort ausgerutscht und dann noch ein paar russische. Ich stellte das Tablett auf den Tisch und ging zu jenem Burschen zurück. Er saß mit anderen an einem kleinen Tisch.

- Das hast du absichtlich gemacht, - sagte ich, - ge‘ma raus!

Der Bursche ist aufgestanden und ist mir ruhig zum Keller gefolgt, dorthin wo die Toiletten sind. Der Gang war leer. Dann habe ich es ihm gegeben. So, ganz leicht mit dem Faust nur gestoßen. Er hat sich aber nicht gerührt. Das hat mich noch mehr geärgert, ich stieß ihn wieder. Da ist er ausgewichen und hat friedlich gesagt:

„Hey, Du bist kein Österreicher... Und ich dachte, dass du ein Österreicher wärest …“

„Was meinst Du damit?“

„Du siehst wie ein Österreicher aus.“

„Ich bin Tschetschene!“

Viele Tschetschenen haben helles Haar und helle Augen, so wie ich, man glaubt oft, dass ich ein Österreicher wäre.

„Ich dachte, du wärest ein Österreicher, - wiederholte der Bursche ruhig.

„Und wo kommst Du her?“, fragte ich entgegen.

„Wir kommen aus Bosnien. Verzeih, Bruder! Wir sind doch Brüder, nicht wahr? Moslems. Wir dürfen uns nicht streiten. Ich war im Unrecht. Verzieh mir.“

„Gut“, sagte ich.

Wenn man um Verzeihung bittet, es ist unmöglich, sich weiter zu ärgern.

Ich schaute zur Seite uns sah ein Mädchen die Treppe herunter steigen. Wir beide starrten sie an. Sie war sehr hübsch, ihr Röckchen war sehr kurz und oben hatte sie so gut wie fast nichts, irgendeinen Stoffflicken über der Brust, ihr Bauch war nackt. Wir glotzten sie an, bis sie hinter der Toilettentür verschwand.

Mein Freund Saschka wartete auf mich.

„Was ist los?“

Ich erzählte es ihm. Saschka zuckte den Schultern:

„Idioten!“

Er meinte die Bosnier.

Wir aßen und dann tranken wir langsam Cola aus Strohhalmen. Jener Bursche und seine Freunde blieben auch sitzen, obwohl sie mit ihren Hamburgern längst fertig waren. Wir hörten etwas aus ihrem Gespräch. Lässt Du das einfach so geschehen, sagte ein Bursche zu dem, mit dem ich mich schon zurechtgefunden hatte. Bosnisch ist eine slawische Sprache, also dem Russisch sehr ähnlich, so können wir auch etwas davon verstehen. Jener Bursche schwieg.

Kurz gesagt, sie kamen an uns heran und sagten, dass wir auf die Straße hinausgehen sollen. Also sind wir eben hinausgegangen und haben uns unter irgendeinen Torbogen begeben. Kein Mensch ringsumher. Sie waren drei, wir zwei. Aber ich fürchtete mich nicht. Äußerlich waren ich und Saschka nichts besonderes, wir sind aber sehr stark, und Saschka lernt Taekwondo.

„Gebt uns sofort eure Telefone und leert eure Taschen!“, sagte einer der Burschen auf Deutsch.

Da hat Saschka ohne nachzudenken ihm eine geklebt. Und zwar ordentlich! Ohne was zu sagen. Ohne Worte. Der Bursche erwartete das nicht, der Schlag war aber so kräftig, dass er auf die Knie fiel und Blut aus seiner Nase strömte. Den anderen habe ich einfach kräftig gestoßen und er ist umgekippt. Jener Bursche, mit dem ich mich vorher fast verbrüdert hatte, stand einfach an der Wand, er wollte nicht raufen, aber Saschka hat das nicht verstanden, blitzschnell hat er mit dem Ellbogen seinen Hals an die Wand gedrückt.

- Nun, gebt uns jetzt eure Telefone! Und Geld auch! Also pronto! – brüllte Saschka.

Sein Gesicht strahlte Bosheit aus, die Bosnier glaubten, dass er ihren Freund zu Tode drücken wird. Der Bursche wollte etwas sagen, aber aus seiner Kehle drang nur das ein heiseres Röcheln, als hätte man auf dem Schnellkochtopf das Ventil geöffnet. Da erschrack sogar ich. Die Burschen haben sofort ihre Mobiltelefone auf den Boden geworfen. Eines war ein «i-Phon», sicher geklaut. Sie haben auch ihre Taschen herausgezogen, aber an Geld war da fast nichts, fünf Euro und ein paar Münzen.

Ich habe die Telefone und das Geld eingesammelt. Saschka hat den Burschen gehen lassen, und dabei gedroht, dass er sie alle umlegen würde, solten sie zur Polizei gehen. „Versprecht ihr mir, dass ihr nicht zur Polizei geht?“. Sie versprachen.

Auf so einen Freund wie Saschka kann man sich verlassen. Er ist ein Jahr älterer als ich, also, ist er für mich wie eine älterer Bruder.

 

Die Bosnier sind dennoch zur Polizei gegangen. Wahrscheinlich, haben sie ihre Eltern dazu gezwungen. Ich hätte schwören können, dass sie nicht zur Polizei gehen würden, so mies haben sie sich gefühlt als wir weggingen. Doch wir waren tatsächlich quitt, sie haben angefangen, und sie haben einfach nicht erwartet, dass die Sache so eine Wendung nehmen würde. Wir, ich und  Saschka, haben mit denen das gemacht, was sie mit uns machen wollten, nur ihnen ist das nicht gelungen. Sie haben alles das verdient! Ich und Saschka sind nicht schuldig. Im Gegenteil! Es war wie im Kino, wo die gerechten Rächer siegen. Die Gerechtigkeit war unser, wir haben gesiegt.

Die Polizisten dachten aber anders. Die Burschen liefen sofort ins Krankenhaus, also wurden sie zu Opfern und wir sind die Täter. Ihre Wunden sind schon längst verheilt, wir aber sitzen immer noch in Untersuchungshaft. Jetzt sagen Sie mir selbst, wo ist die Gerechtigkeit?! Man sollte diese Bosnier in Knast stecken, nicht uns! Sie haben doch angefangen!

 

Die Bedingungen im Knast sind eigentlich nicht so schlecht, wir ich erwartet habe. Die Zelle hat vier Betten, so wie ein Zimmer in einem Wohnheim. Drei Mal am Tag bekommen wir was zum Essen. Es ist nicht schön, aber man kann leben. Nur verrecke ich vor Langeweile! Von Tag zu Tag fühlte ich mich schlechter. Saschka saß in einer anderen Zelle, ich sah ihn nur einmal im Gang. Dafür kam meine Mutter mich sehr oft besuchen. Es ist gut, dass ich in Wien geblieben bin, sonst wäre sie nicht zurechtgekommen, doch muss sie auch meinen Vater besuchen.

Meine Mutter tut mir leid. So leid, dass mein Herz stehen bleibt. Doch war ich der „Älteste“ seitdem mein Vater im Gefängnis sitzt, jetzt aber ist sie ganz allein mit den Kleinen geblieben. Sie ist aber sehr mutig, meine Mutter. Sie schrie mich nicht an, sie schimpfte nicht, sie weinte nicht einmal, sie sagte nur ganz leise:

„Erzähl bitte ehrlich, wie das alles passiert ist.“

Also, ich habe eben erzählt. Alles ganz klar und offen! Ich habe doch nichts zu verbergen, ich und Saschka, wir haben doch recht.

Nachdem sie die Geschichte gehört hat, sagte meine Mutter, dass wir einfach weggehen hätten sollen, in die U-Bahn steigen, wo viele Menschen sind, dann wäre nichts geschehen. Tja… Meine Mutter ist eine Frau, sie kann das nicht verstehen. Das war eine Ehrensache! Wir konnten nicht weglaufen wie die letzten Feiglinge! Wir hätten uns dann selbst nicht mehr achten können. Und diese Bosnier, sie sind Schweine! Sie haben angefangen. Dann haben sie doch versprochen nicht zur Polizei zu gehen, und sie haben ihr Wort gebrochen.

Meine Mutter schütte den Kopf:

„Denke selbst nach: wenn jemand dich verprügelt und dein Telefon weggenommen hätte, was hättest du gesagt?“

Warum soll ich darüber nachdenken? Mir hat keiner etwas weggenommen, weil ich mich verteidigen kann. Weil ich ein echter Mann bin. Ich bin erst sechzehn, aber ich weiß schon, wo es lang geht. Das alles konnte ich meiner Mutter nicht erklären. Nicht, weil mir die nötigen Wörter fehlen, sondern weil sie eine Frau ist. Frauen können solche Sachen nicht verstehen. Andererseits konnte ich meine Zunge nicht bewegen, so leid tat sie mir. Und jetzt ist sie alleine mit meinen kleinen Geschwistern.

Meine Mutter ist sehr tapfer.

Sie und mein Vater sind immer noch so etwas wie ein Liebespaar. Unsere Bekannten wundern sich, sie finden das seltsam. Obwohl meine Eltern schon so lange verheiratet sind, gehen sie miteinander untergehakt. So etwas ist unter Tschetschenen ist nicht üblich. Meine Mutter ärgerte sich manchmal über meinen Vater, weil er zu viel Zeit mit seinen Freunden verbrachte, sie wünschte, dass er nach der Arbeit sofort nach Hause ginge. Jetzt aber sitzt er im Knast und keiner besucht ihn außer Mutter, alle seine Freunde sind verschwunden, keiner interessiert sich für ihn. Mein Vater ist ein echter Mann, aber er verbarg nicht, wie er meine Mutter liebt, er wollte ihr zum Geburtstag ein Parfüm schenken. Meine Mutter liebt Parfüm. Jetzt aber sagt sie, es sollte überhaupt kein Parfüm in der Welt geben, sie würde nie mehr ein Parfüm verwenden.

Früher war mein Vater gar nicht arm. Als wir in Tschetschenien lebten, hatten wir zwei Häuser, eins davon hat mein Vater geerbt, und das zweite hat er selbst gebaut. Wir hatten auch ein Auto. Später aber… Sie wissen schon… Es war Krieg! Als wir nach Österreich kamen, hungerten wir am Anfang, dann aber hat mein Vater Arbeit gefunden. Wir lebten nicht besonders gut, aber es ging. Mir gefällt es, zu lernen. Nicht so, dass ich ein Gelehrter werden will, sondern einfach fürs Leben. Ich habe mir bereits einen Beruf ausgewählt. Jetzt aber, wegen dieser Geschichte, habe ich ein ganzes Jahr verloren.

 

Meine Mutter kam mich oft besuchen, sie hat immer an mich gedacht, sie hat sich gar nicht beklagt. Sie wiederholte nur immer wieder, dass ich bereuen das soll, was ich gemacht habe. Wenn ich bereue, sagte sie, so wird Gott auch mir verzeihen, und dann wird alles wieder gut. Solle das nicht geschehen, so werde ich mein Leben lang leiden. Natürlich bereute ich, aber meine Mutter glaubte das nicht, sie sagte, ich hätte nicht vom ganzen Herzen bereut, ich bedauere einfach, dass ich ins Gefängnis geraten bist. Und wie sonst solle ich bereuen? Frauen verstehen Männer überhaupt nicht. Der weibliche Stolz ist einer, und der von Männern ein anderer! Es schien, wir redetrn über eine und dasselbe, aber in verschiedenen Sprachen.

Ich ärgerte mich sehr. Über wen? Auch über  die Polizisten, aber vor allem über diese Bosnjaken. Sie haben ihr Wort gegeben, dass sie nicht zur Polizei gehen werden, und sie haben ihr Wort gebrochen. Sie sollten bereuen, nicht wir! Wenn ich raus käme, würde ich sie finden, sie würden mir für alles bezahlen.

Später aber war ich nicht mehr so sicher. Wenn man einen Monat nach dem anderen in einer Zehnquadratmeterzelle sitzt, verliert man einen guten Teil von seinen Wünschen. Außer Herzeleid konnte ich nichts mehr empfinden. Es schien, dieses mein Dasein würde niemals enden …

Meine Mutter unterstützte mich. Wenn es nicht sie gäbe, ginge es mir noch schlechter. Sie hat sich Geld für einen Anwalt ausgeborgt und erzählte mir darüber, was er bereits gemacht hat. Ich schöpfte Hoffnung, bedanken aber konnte ich mich nicht, meine Zunge drehte sich nicht im Mund. Ich verspürte Arger. Besonders, wenn sie wieder und wieder „das Lied über die Reue“ angefangen hat. Sie sagte, ohne Reue meinerseits wird kein Anwalt mir helfen können. Weil alles in Gotteshand liegt. Sobald sie aber wegging, hatte ich Mitleid mit ihr.

Weil ich meine Gefühle mit Worten nicht ausdrücken konnte, wolle ich ihr einmal einen Brief schreiben. Alles, was ich sagen nicht konnte, wollte ich aufs Papier bringen. Der Wächter hat mir ein Stück Papier gebracht und einen Bleistift gegeben. Diese Wächter sind sehr schweigsam. Sie sehen dich gar nicht böse an, sagen aber etwas erst dann, wenn es wirklich nötig ist. Ich saß lange vor diesem Blatt Papier, schreiben aber konnte ich nicht.

Wann kommt endlich die Verhandlung?! Sogar, wenn ich verurteilt werde. wird es dennoch besser sein als das alles hier. Ich komme dann in ein normales Gefängnis. Man sagt, dort gibt es sogar eine Sporthalle, Hauptsache aber, dort kann man sich mit anderen unterhalten, hier aber …

Eigentlich war ich in der Zelle nicht allein, ich hatte einen Nachbarn, einen Türken namens Bakra, er war aber genau so wortkarg wie diese Wachmänner und wollte nicht erzählen, warum er hier ist. Sagte nur mit Stolz, dass er kein Türke sei, sondern ein Kurde. Mir ist das aber egal, soll er sogar Papua sein, von mir aus!

Der Wachmann brachte ihm jeden Tag Papier und Bleistifte, weil er ohne Ende zeichnete. Die Zeichnungen waren mit Texten, also Comics. Obwohl er in Deutsch schrieb, konnte ich kaum was verstehen. Bakra versuchte mir etwas zu erklären, aber sein mündliches Deutsch verstand ich noch weniger, obwohl ich Deutsch ohne Probleme spreche, sogar ohne Akzent, ist doch klar, ich bin als kleines Kind nach Österreich gekommen.

 

Die zwei oberen Betten blieben lange leer, später hat man aber einen Dritten zu uns gebracht. Er ist sofort nach oben gekrochen und blieb dort drei Tage lang liegen. Offensichtlich schlief er, und stieg nur dann hinunter, wenn er auf die Toilette musste. Am vierten Tag starrte er den halben Tag lang an die Decke. Dann schaute er lange zu, wie Bakra zeichnete. Bakra zeigte ihm dann auch seine anderen Zeichnungen. Der Neuling hat mehr verstanden, als ich, die Zeichnungen haben ihm gefallen, er hat sogar gelächelt, aber sein Lächeln war irgendwie krumm und unglücklich.

Sein Name war lustig, er hieß Knut. Auf Russisch bedeutet das die Peitsche. Ein Mensch mit so einem Namen sollte meiner Meinung nach entschlossen und mutig sein. Wie ein Blitz. Dieser Bursche war aber ganz scheu, sein Name passte nicht zu ihm. Er war sehr schmächtig, obwohl groß gewachsen, und sein Gesicht war ganz blass.

„Hey, erzähl endlich, warum bist du hier?“, sagte ich.

„Für nichts!“

„Alle sind hier für nichts“, sagte ich.

Dann erzählte ich ganz ehrlich meine Geschichte, ich habe doch nichts zu verbergen, sollte so etwas noch mal passieren, würde ich wieder genauso handeln.

So erzählte auch Knut seine Geschichte. Er war mit irgendwelchen Typen abgehängt, die er kaum kannte, er traf sie nur manchmal auf dem Schulhof. Die waren kühle Kerle, kein Vergleich zu Knut. Knut hatte eigentlich keine Freunde, so hat er sich gewaltig gefreut, als er von diesen Burschen eingeladen wurde. Sie tranken Bier, dann gingen sie zu einem, dessen Eltern verreist waren und tranken weiter, bis alle Elternvorräte ausgetrunken waren. Vorher trank Knut keine Spirituosen, dabei wurde ihm bald schlecht. Er erinnerte sich, dass später zwei Mädchen dazugestoßen sind, sie hatten ganz kurze Shorts an. Die Mädchen haben auch viel getrunken.

Bald wurde dem Knut ganz schlecht, er rannte auf die Toilette. Als er zurückkam, setzte sich auf den Fußboden. Erst in der Nacht wurde er wach und sah, dass er auf dem Teppich im Wohnzimmer lag. Er trat über schlafende Körper und ging zu Tür.

Am nächsten Tag kamen Polizisten zu ihm nachhause. Seine Eltern hatten ihn angeschrien, weil er erst in Morgengrauen zuhause war, jetzt aber bekam seine Mutter überhaupt einen hysterischen Anfall:

„Was hasst du angerichtet, gestehe ein!“

Erst am Polizeikommissariat hat Knut erfahren, dass die Burschen sollen die Mädchen belästigt hätten. So gingen die Mädel am nächsten Tag zur Polizei und zeigten alle Burschen wegen der versuchten Vergewaltigung an. Alle Burschen wurden verhaftet. Auch Knut. Obwohl er überhaupt nicht wusste, was da geschehen ist, er hat doch geschlafen, weil er kein Alkohol verträgt.

Die Polizisten glaubten ihm nicht. Seine Eltern auch nicht. Sein Vater war beim ersten Verhör dabei, benahm sich aber so, als ob er  sein Richter wäre. Jetzt wurde Knut von niemandem besucht. Mich besuchte meine Mutter, zu Bakra kam seine ganze türkische, Verzeihung, kurdische Verwandtschaft, nur Knut blieb alleine in der Zelle. Ihn haben alle vergessen. So vergisst man einen Regenschirm in einem Lokal, wenn es nicht mehr regnet.

 

Ich drehte den Bleistift in den Händen, wieder und wieder versuchte ich meiner Mutter einen Brief zu schreiben. Sie hat bald Geburtstag, feiern wird sie aber alleine nur mit meinen kleinen Geschwistern. Was für ein Festtag würde das?! Meine Mutter zeigte mir nie ihre Tränen, ich wusste aber, dass sie oft weint.

Was genau meinte meine Mutter, wenn sie immer wieder sagte, dass ich bereuen soll? Wie muss man bereuen? Gott ist  natürlich allmächtig, ich bezweifle aber, dass er sich für uns interessiert. Warum ließ er uns so sehr leiden? Warum ließ er diesen Krieg geschehen und dann diese Emigration zu? Meine Mutter sagte, nicht Gott wäre schuld, das sind die Menschen. Menschen sind böse, ich darf nicht alles das auf Gott schieben- Wenn ein Mensch keine Gesetze achtet... Sie sagt, der Mensch verantwortet seine Taten selbst, Gott hat uns das Leben gegeben und die Gesetze, also das ist schon genug, für alles andere ist der Mensch selbst verantwortlich. Solange wir alle gesetzmäßig lebten, war alles in unserem Land so weit so gut, dann aber sind alle wie verrückt geworden, dann wusste man nicht mehr, wer Feind und wer Freund war.

Was soll das bedeuten - Menschen seien böse? Bin ich auch böse? Man sperrt mich ein so, als ob ich ein wildes Tier wäre. Nein, das ist ungerecht! Es gibt keine Gerechtigkeit in dieser Welt. Ich dachte darüber nach. Diese Gedanken vermischten sich mit meinen Kindheitserinnerungen. Woran genau ich dachte, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass alle diese Gedanken mich allmählich gleichsam absorbierten, ich versank in ihnen …

 

Knut wurde zum Verhör abgeholt. Als er zurückkam, war er blass wie Kreide. Er sagte die Wahrheit, ich weiß es, man sieht sofort, ob einer lügt oder nicht, aber die Polizisten haben ihm nicht geglaubt. Knut ist nur ein halbes Jahr jünger als ich, in Wirklichkeit ist er aber wie ein kleines Kind, mit so einem befreundet zu werden wäre total uninteressant. Als er vom Verhör zurück kam, hat er kein Wort gesagt, kroch sofort auf sein Bett und bewegte sich kaum bis zum Ende des Tages. In der Nacht hat mich ein Geräusch geweckt, als ob etwas geklopft hätte. Ich öffnete meine Augen und sah in dem hellen Viereck des Fensters einen riesigen Schatten, der wie ein Pendel schaukelte. Ich verstand nicht sofort, dass es der Körper von Knut war. Dann aber stieß eine unsichtbare Feder mich aus dem Bett, ich umfasste seine Beine und versuchte ihn nach oben zu stoßen. Bakra wurde auch wach, er sprang auf das obere Bett, zu zweit haben wir Knut aus der Schleife befreit. Er war bewusstlos, sein Herz aber klopfte schwach. Sofort kamen die Wachmänner, auf schnellstem Wege brachten sie Knut ins Krankenhaus.

 

Wir, Bakra und ich, lagen in unseren Betten - ohne zu sprechen, ohne die Augen zuschließen. Mit leerem Blick starrte ich ins weißliche Rechteck des vergitterten Fensters, der schreckliche schaukelnde Schatten schien immer noch da zu sein. Es schien, als ob meine Seele mir herausgenommen wurde, und an ihrer Stelle bildete sich in meinem Inneren eine furchtbare Leere, sie zog mich immer tiefer hinein, bis ich mich in diesem schwarzen Loch endgültig auflöste. Dann hat diese Leere die Grenzen meines Körpers überschritten, sie fühlte die Zelle aus, kroch durch das vergitterte Fenster nach draußen. Sie lebte jetzt ihr eigenes Leben, sie übernahm die Macht, es gab keine Rettung mehr. Wie dünn ist diese Grenze zwischen Leben und Tod! Zwei Tage lang befand ich mich in so einem Zustand, den man wahrscheinlich Prostration, volle psychische Entkräftung, nennt. Ich war hier, und ich war nicht hier. Ich dachte ans Leben und an den Tod, und ich dachte an nichts mehr.

Warum hat er das gemacht? Gibt es in dieser Welt etwas, was wichtiger als das Leben selbst wäre? Wie schwer auch jetzt mein Leben in diesem Käfig sein mag, ich hätte niemals gewünscht, es zu beenden. Knut aber wollte das...

Am dritten Tag sind die Träne plötzlich aus meinen Augen von selbst geflossen, ich konnte sie nicht halten. Ich weinte. Ich weinte wie eine Frau, und es war mir nicht peinlich. Ich habe mich allerdings zur Wand gedreht, damit Bakra nichts sieht, ich wusste aber, dass meine Schultern verräterisch zucken. Bakra war offensichtlich in sein eigenes schweres Nachdenken versunken. In diesen Tagen hat er sogar seine Bleistifte vergessen.

Nachdem die Tränen aus waren, fühlte ich mich schon besser.

Am nächsten Tag kam meine Mutter und ich habe ihr alles erzählt.

„Du hast ein Menschenleben gerettet“, sagte sie nachdenklich, es schien, sie würde jetzt auch weinen.

Ich war kein Held. In dem was Knut passierte, fühlte ich auch einen Teil von meiner unverständlichen Schuld. Worin diese Schuld bestand, wusste ich nicht, aber ich fühlte sie. Ich wollte mit meiner Mutter darüber reden, aber ich konnte wieder keine Worte finden, ich wusste nicht, wie diese Gefühle heißen, die meine Seele verwüsteten. Meine Mutter schaute mich lange und schweigend an. Ich schaute ihr auch in die Augen. Ihr Blick war gütig und traurig. Plötzlich überflutete mich das Gefühl der Dankbarkeit. Diese Frau versteht alles ohne Worte, sie ist klüger und besser als alle Männer. Das wusste ich jetzt ganz genau. Seitdem ich hier bin, haben mich meine Freunde genauso vergessen, die Freunde meines Vaters ihn vergessen haben, alleine meine Mutter hat mich nicht vergessen. Sie dachte nicht daran, mich wegzustoßen. Auch meinen Vater würde sie nie wegstoßen. Sie bleibt immer auf unserer Seite. Es ist ihr peinlich, was wir getan haben, sie rechtfertigt das niemals, trotzdem drückte sie uns an ihr großes Herz, sogar jetzt, wenn wir im Gefängnis sitzen.

Knut aber wurde von seinen Eltern verraten. Sie haben ihn zurückgestoßen, als er in Schwierigkeiten geriet. Sie haben ihn nicht einmal gefragt, was wirklich geschehen ist. Obwohl er ihr Blut ist...

 

- Mama, ich habe alles verstanden, - sagte ich leise und meine Augen fühlten sich wobei mit Tränen, mir schien, ich sei wieder ein Kind geworden.

 „Was hast du verstanden, mein Sohn?“, fragte meine Mutter mit trauriger Stimme.

„Ich bereue es, Mama, es ist mir peinlich, was ich gemacht habe. Und dass ich dir weh getan habe.“

Diese Worte flosen unwillkürlich aus meinem Mund.

 

Ich weiß nicht wie ich das verstehen soll, es geschah aber genau so, wie meine Mutter vorausgesagt hatte. Am nächsten Tag kam der Anwalt und sagte, dass die Gerichtsverhandlung in drei Tagen stattfinden soll. Sie war kurz. Das Urteil: eineinhalb Jahre. Berücksichtigend, dass ich bereits fast ein Jahr abgesessen habe, hat man mich auf Bewährung frei direkt aus dem Gerichtssaal entlassen. Am Abend half ich meiner Mutter, die Kleinen ins Bett zu bringen.

Reue…

Die Russen haben so ein Sprichwort: „Gott liebt die Sünder“. Gemeint werden wahrscheinlich die bereuenden Sünder, die wieder den Weg zu Gott fanden… Haben wir alle wirklich nur einen Gott?

 

Wien, 2012

(Veröffentlicht in "Augustin" No 392, 393, 394 -2015. Lektorat: Jenny Ledenstein)