Diana Wiedra

IN MEINEN ADERN
FLIESSEN DIE KONFLIKTE DER ZEITEN

Wir kommen aus dem stürmischen Nichts... Wir kommen aus dem Nichts, um wieder ins Nichts zu gleiten... Die Theorie der Reinkarnation ist auch weniger tröstlich: eine Wiedergeburt löscht das Gedächtnis über vorige Leben, die Persönlichkeit, aber unterlässt nicht, dich mit Verantwortung für die Sünden deinen vorigen Existenzen zu beschweren. Was für eine unbarmherzige Geschichte! Unser Gott lässt uns auch keine Illusionen: «…
verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation».
Wir tragen genetische Informationen in uns, das Erbe unserer Vorfahren, das in unserem Gedächtnis verankert ist. Das ist die wahre Last unserer vorigen Leben. Ob wir wollen oder nicht, wir sind Fleisch vom ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute, Gen ihrer Gene. Wir erben ihr Elend und ihren Reichtum, ihr Glück wie auch ihren Kummer, und wir geben dieses Erbe an unsere Kinder weiter.

Ich wurde in der Ukraine geboren...
Tja… Erst als ich zwölf war, erfuhr ich, dass ich nicht im Kohl gefunden wurde (eine russische Version der Storchgeschichte). Ist das vielleicht ein Grund dafür, dass ich mich mein Leben lang wie ein Findelkind fühle?
Damals erfuhr ich auch andere Geheimnisse meiner Herkunft.
Unsere Familie war nicht arm (im Vergleich zu denen, die wirklich arm waren), aber die Einrichtung unseres Hauses war spartanisch. Meine Eltern legten keinen Wert auf Bequemlichkeit, dafür kannte ihre Gastfreundschaft keine Grenzen. Sie waren von jener spezifischen russischen Güte ausgezeichnet, die sich mit dem Gesicht zu Fremden wendet, die Eigenen sollten sich mit den Resten zufrieden geben, das im wahrsten Sinne des Wortes.
Mein Vater leitete einen Transportbetrieb, was ihn zu einer sehr wichtigen Person für die ganze Region machte: Transport ist schließlich das Blut der Wirtschaft. Seine Mitarbeiter mochten ihn sehr wegen seiner Großzügigkeit. Das heißt, er schloss die Augen, wenn es um Schwarzarbeit ging, da er gut verstanden hat, dass sowjetische Gehälter es schwer machten, die Familie zu ernähren.
Freunde liebten ihn auch, aber noch mehr liebten ihn Frauen. Er war ein attraktiver Mann: stellen Sie sich einen Mastroianni georgisch-russischer Art vor – und – er war auch ein Charmeur. Die Damen verliebten sich in ihn und er konnte einfach nicht ,Nein‘ sagen. Dass das unsere Mutter gar nicht begeisterte, ist wohl leicht zu verstehen... Stürmische Eifersuchtsszenen wurden zu einem Bestandteil unserer Kindheit.
Mein Vater ließ sich überhaupt sehr leicht begeistern. Einmal war es die Jagd, ein anderes Mal die Fotographie, dann wieder Tiere, z.B. Fische… Ein Maß dabei kannte er nicht, ich meine, wenn es um technische Ausrüstung ging, und er war nicht imstande, alles rechtzeitig durchzurechnen. Erst nachdem er Gewehre, Bekleidung und sogar einen wunderbaren Jagdhund gekauft hatte, fiel es ihm ein, dass er im Eifer der Begeisterung des Erwerbs der Ausrüstung vergessen hatte, dass er Tiere eigentlich vergötterte und daher nicht imstande war, auf ein Lebewesen zu schießen! Er war sogar im Krieg, ohne einen Schuss abzugeben: da hatte er einfach Glück, denn er befehligte eine Fahrzeugkolonne, die für die Versorgung an der Frontlinie sorgte.
Innerhalb einer Woche war die ganze Ausrüstung verschenkt. Seine Freunde haben sich über die Geschenke gefreut, aber sie waren darüber empört, dass ein prächtig abgerichteter Jagdhund auf Kissen schläft und mit Schokolade gefüttert wird. Bald verschwand unser Hund, den die ganze Familie ins Herz geschlossen hatte, jemand hat ihn uns gestohlen.
Obwohl mein Vater nicht fähig war, ein Lebewesen zu töten, verfügte er über seltene Tapferkeit, die wohl an die Unvernunft eines kleinen Kindes grenzte, das nicht fähig ist, sich der Gefahr der Situation bewusst zu werden. Aber gerade diese "Unvernunft" rettete uns einmal das Leben.
Ich war damals fünf Jahre alt. In der Nacht klopfte jemand laut an die Tür und zu gleicher Zeit trommelte es beharrlich ans Fenster. Das bedeutete nichts Gutes. Mutter und Großmutter waren zu Tode erschrocken, Vater aber – noch nicht ganz wach – öffnete, ohne nachzufragen, die Tür. An der Schwelle standen vier junge Männer, man konnte sehen, dass sie unter ihrer Jacke ihre Waffe versteckten. Ob mein Vater das auch gesehen hat? Allerdings sagte er gastfreundlich:
„Kommt herein, ihr Burschen!“
So eine Freundlichkeit verblüffte die „Burschen“. Sie kamen herein und holten ihre Gewehre heraus. Schweigend kamen sie in die Küche, dann in die Zimmer, schauten an die Decke, wo sie ein Schlupfloch auf den Dachboden vermuteten…
„Ihr Burschen, wollt ihr Wodka?“, fragte der Hausherr.
Die „Burschen“ schauten meinen Vater an, wendeten ihre Blicke auf die erschrockene Mutter und Großmutter, die mich und meinen Bruder an sich drückten, schauten einander erstaunt an, die Blicke auf die spartanische Ausstattung unserer Wohnung gerichtet, und gingen weg, ohne ein Wort zu sagen.
Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass die „Burschen“ sich im Haus geirrt hatten, sie waren im Begriff, in dieser Nacht die Familie unseres Nachbarn, der Jude war, auszulöschen. Zum Glück aber war die ganze Familie gerade auf Reisen. Die „Burschen“ zerstörten und plünderten sein Haus.
Für diejenigen, die es vielleicht vergessen haben oder nicht wussten: Die nationalistischen Banden, die den Namen des Stefan Banderas trugen, hielten sich noch lange nach dem Ende des Krieges in den Wäldern auf und begingen diese Überfälle, vor allem auf Juden, aber auch auf Russen und Polen. Sie kannten dabei keine Gnade.
Mein Vater wurde einfach von seinem Instinkt geleitet, in ihm saßen tief verankert die Traditionen der georgischen Kultur: „Gast ins Haus – Gott ins Haus!“. Unser Vater empfing jeden neuen Menschen so, als ob er sein ganzes Leben auf diesen glücklichen Moment gewartet hätte. Sie stimmen mir wahrscheinlich zu, sogar dem brutalsten Banditen fiele es nicht leicht, jemanden zu töten, der ihm gastfreundlich die Türe öffnet.

Diese Geschichte, die mehrmals in unserer Familie wiedererzählt wurde, hat in gewissem Sinne auch meinen Charakter geprägt. Der einzige Rat, den ich aus dem Munde meines Vaters hörte, lautete: „Dem Angreifer, ob Mensch oder Hund, darf man nicht zeigen, dass man Angst hat.“
Ein paar Mal hat das auch mir vielleicht das Leben gerettet, als ich auf der Straße angegriffen wurde. Einmal gelang es mir, mich sozusagen frei zu reden, die Burschen waren davon beeindruckt, dass ein junges Mädel keine Angst vor ihnen hatte. Sie boten mir sogar schließlich ihren Schutz. Ein anderes Mal musste der Angreifer vor mir flüchten. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, sage nur, dass es für mich viel schwieriger war, mich dort zu verteidigen, wo es um verbale Angriffe ging; da war ich hilflos und brach oft einfach in Tränen aus, das wäre aber eine ganz andere Geschichte.
Jetzt aber zurück zu meinem Vater.

Mit der Begeisterung von der „Foto-Jagd“ war es eine ähnliche Geschichte, aber mit dem Unterschied, dass die ganze Ausrüstung nicht an Außenseiter verschenkt wurde, sondern an mich. Mein Vater hatte nämlich kranke Beine und war überhaupt körperlich nicht besonders fit, was für einen Fotografen nicht gerade ein Vorteil ist. Daraufhin wurde die Fotografie zu meiner großen Leidenschaft und sogar zu meinem zweiten Beruf.

Hunde und Katzen waren von Kindheit an meine geliebten Begleiter. Später aber begeisterte sich mein Vater für Aquarienfische. Wenn Sie denken, dass er sich mit einem Aquarium vergnügte, dann kannten Sie meinen Vater nicht. Aus zwei Fischen wurden in ein paar Monaten ganz genau 25 Aquarien. In unserer Wohnung lebten Fische und wir hatten kaum Platz. Ewiges Umgießen, Summen der Luftkompressoren, lebendes Futter – kürzer gesagt Würmer – Bücher über Aquaristik, Guppy, Skalar usw…
Trotz aller Sorgfalt starben die Fische an irgendwelchen Viren, was meinen Vater zur Verzweiflung brachte. Um sich zu trösten, kaufte er neue Guppys und neue Skalars. Wie endete diese Geschichte? Einmal kam zu uns ein Finanzinspektor. Wer würde schon glauben, dass einer fähig wäre, sein ganzes Geld auszugeben, furchtbare Unbequemlichkeiten zu ertragen, seine Familie zu terrorisieren, um letztendlich nichts davon zu haben? Man wollte nicht glauben, dass mein Vater mit Fischen nicht handelte. Dann ist der Lieblingsfisch meines Vaters gestorben… Bald verschwanden alle Aquarien aus der Wohnung und ich versprach mir, dass bei mir Fisch nur auf den Teller kommt.

Die längst anhaltende Begeisterung meines Vaters blieb die Musik. Nein, er spielte kein Instrument, er sammelte Tonbandaufzeichnungen und Schallplatten. In damaligen Zeiten konnte sich so etwas nicht jeder leisten. So bildete sich bald in unserer Wohnung eine Art Klub um Boogie-Woogie,
Rock ’n’ Roll, Presley, Armstrong, Beatles oder Wertinskiy zu hören und nebenbei Karten, Domino oder Backgammon zu spielen, kamen hauptsächlich die jungen Menschen. Dem Alter nach hielt man sie für meine Freunde, sie waren aber Freunde meines Vaters.
Es waren damals keine einfachen Zeiten. Wie es dazu kam, weiß ich immer noch nicht, aber einmal kam die Miliz mit einem Durchsuchungsbefehl zu uns, und das war sehr peinlich. Ich war sechzehn und allein zu Hause.
Ach ja, wenn Ihnen jemand sagte, dass man in unserem Land die Leute fürs Spielen westlicher Musik ins Gefängnis brachte, glauben Sie das bitte nicht. Die westliche Musik war wirklich von der Kommunistischen Partei unerwünscht, aber das ganze Land war trotzdem in der einen oder anderen Weise von westlicher Musik überflutet – nur – der Bedarf an Schallplatten, sowie übrigens an guten Büchern, überstieg weit das Angebot, so blühte im Land der Schwarzmarkt. Man wollte wieder meinem Vater unterstellen, dass er mit den Tonbändern oder Ähnlichem, handle. Es geschah weiter gar nichts, nur ein paar Monate später erfuhren wir, dass Vaters Sammlung auf den Regalen im Zimmer des Sohnes des Milizkommandanten gelandet war…
Bald fuhr ich an die Uni einer anderen Stadt und Vater ist mit meiner Stiefmutter (die Eltern waren zu dieser Zeit bereits geschieden) nach Tiflis übersiedelt, Heimatstadt meines Vaters. Dort hat er wieder beharrlich begonnen, Tonbänder und Schallplatten zu sammeln, bald hatte sich rund um ihn ein neuer Klub gebildet.
Wenn ich in den Ferien nach Hause kam, bot sich mir folgendes Bild: Im Sommer standen die Fenster weit offen, die Musik donnerte weit über Mitternacht und dabei so laut, dass man sie weithin hören konnte. Was aber merkwürdig war, die Nachbarn beklagten sich nie! Das ist der Süden! Solche Nachbarn verdienen wahrscheinlich ein Denkmal für ihre Geduld, ich habe sie aber dafür gehasst. Nach dem Abschluss an der Uni war ich im Begriff, in Tiflis zu bleiben, aber meine Geduld reichte nur für ein halbes Jahr. Der Lärm und das Menschengedränge in der Wohnung waren unerträglich. So entschied ich mich, nach Murmansk zu fahren, wo ich Freunde hatte, dort, wo eine Nacht ein halbes Jahr dauert. In Moskau sollte ich umsteigen und für ein Visum sorgen, da Murmansk damals eine Militärzone war. Der Umstieg dauerte 15 Jahre lang, Visum habe ich schließlich bekommen, aber nicht für Murmansk, sondern für Österreich. Das wäre aber wieder eine andere Geschichte.

Jetzt muss ich vielleicht darvon erzählen, was war, als ich noch nicht in dieser Welt war. Über meine Vorfahren …
In demselben Jahr, als ich erfuhr, dass Kinder nicht gefunden, sondern geboren werden, erfuhr ich auch, dass in meinen Adern adeliges Blut fließt. Meine georgische Großmutter Eugenia Alexandrowna Sakwarelidse-Tarchen-Mouravi gehörte zu den Nachkommen eines georgischen Nationalheldens, des berühmten Heerführers und Politikers des georgischen Reiches Kartli Georij Saakadse (1570-1629).

Er „ist ein sehr guter Redner und ist scharfsinnig, kompetent, sowie ein Riese und sehr tapfer" (Dawrisezi Arakel. Das Buch der Geschichten). «Mourawi ist wahrhaftig mutig, heldenmütig, hat den Körper eines Elefanten, ein seltener Prachtkerl, verfügt über die Kraft eines Bären …» (Naima Mustafa. Die Nachrichten über Georgien und den Kaukasus).
Georgij Saakadse gehörte zum Nachkommen von Dschansurab dem Großen, dem Feldherren der berühmten Zarin Tamara, die vom georgischen Volk bis heute vergöttert wird. Das bedeutet, dass die belegte Geschichte unseres Geschlechts bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht.
Einer meiner Vorfahren aus dem führenden Hause, namens Luarsab war mit der Zarentochter Sophja aus dem Geschlecht der Bagrationi verheiratet, und das bedeutet, dass in meinen Adern auch ein Tropfen Zarenblut fließt. Da die Fürsten aus dem Geschlecht der russischen Zaren Romanow georgischen Prinzessinnen zur Frau nahmen, bin ich auch mit dem Zarenhaus Romanow verwandt. Meine Blutsverwandte Leonida Georgijewna Bagration-Muchranskij (1914-2010) hatte 1947 den Großfürsten Wladimir Kirillowitsch Romanow kennengelernt und heiratete ihn ein Jahr später. Am 12. August fand eine bürgerliche Eintragung, am 13. August 1948 die kirchliche Trauung in der griechischen Kirche des Hl. Gerassim in Lausanne statt. Es wurde also meine hohe Blutsverwandte Ehefrau des Oberhauptes des Russischen Zarenhauses. Aus dieser Ehe stammt die am 23. Dezember 1953 in Madrid geborene Tochter Marija Wladimirowna Romanow. Marija Wladimirowna studierte an der Universität Oxford. Auch heute noch nimmt sie aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. 1989, nach dem Tod von Wassilij Alexandrowitsch,
ohne männliche Erben, wurde sie von ihrem Vater zur Erbin des Russischen Throns erklärt. 1992, nach dem Tod Wladimir Kirillowitsch‘, hat sie das ,Manifest von der Annahme der Oberherrschaft im Russischen Kaiserlichen Haus‘ verlegt und ihren Sohn Georgij Michajlowitsch zum Thronerben erklärt.
Georgij Michajlowitsch stammte aus ihrer Ehe mit dem Prinzen Franz Wilhelm dem Preußischen (in der orthodoxen Tradition: der Großfürst Michail Pawlowitsch). Maria Wladimirowna und ihr ehemaliger Ehemann gehören beide zu den Nachkommen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm der III.
Da die Mitglieder der königlichen Häuser Europas miteinander verwandt sind, ergibt eine weitere Suche, dass das Geschlecht Tarchan-Mourawi sogar mit der englischen Königin Viktoria verwandt ist.
Viel näher steht uns der Klan des ehemaligen spanischen Königs J
uan Carlos Alfonso Víctor María de Borbón y Borbón-Dos Sicilias (übrigens auch ein Frauenheld, aber im Großformat) und jetzigen Königs Felipe. Der junge Zarensohn David Georgiewitsch Bagration-Muchranskij, der das georgische Zarenhaus nach dem Ableben seines Vaters, des Fürsten Georgij Iraklijewitsch Bagration-Muchranskij (1944-2008) - symbolisch- leitet, ist der Sohn des verstorbenen georgischen Fürsten Georgij und seiner ersten Ehefrau Donja Maria de las Mercedes de Sornosa i Ponce de Leon. Davids Großmutter väterlicherseits war die Schwester des Juan Carlos.
Hmm … und alles das ist von der Zarentochter namens Sophja Bagrationi ausgegangen, nachdem sie Luarsab Tarchan-Mourawi heiratete!

Was das Geschlecht Sakwarelidse – männlicher Zweig meiner Großmutter – betrifft, dieses gehört nicht dem Hochadel an, dafür aber bereicherte es ihr Land mit Wissenschaftlern, Intellektuellen, Journalisten, Schauspielern, Ärzten und sogar Revolutionären, die in Enzyklopädien angeführt sind.

Alle diese Einzelheiten erfuhr ich später, sie scheinen aber weniger interessant zu sein, als jene Geschichten, die meine Großmutter erzählte. Sie klangen romantisch wie echte Märchen.
Meine Lieblingsgeschichte war die Geschichte darüber, wie meine Großmutter meinen Großvater kennenlernte. Sie war ein junges Mädchen und mein Großvater Alexander Kasimirowitsch von Czarkovsky war damals fast vierzig Jahre alt. Seine Bildung erwarb er an der 4. Moskauer Kadettenschule, danach an der Alexandrowskij Militärbildungseinrichtung. Zur Zeit des Kennenlernens mit der Großmutter war er Kommandeur der 6. Bergbatterie des 51. Artillerieregiments der kaiserlichen Armee und Kavalier des Ordens des Hl. Stanislaw und der Hl. Anna.
Alexander Kasimirowitsch von Czarkovsky war nicht nur sehr attraktiv und vornehm, sondern auch sehr reich.
Sie lernten einander – so wie es sich gehörte – auf einem Ball kennen. Wie er zu diesem Ball kam, ist auch eine Geschichte. Dafür musste er aus dem Arrest fliehen. Aber für die Offiziere höheren Ranges hatte Arrest eigentlich eher einen symbolischen Charakter. Die Artilleriebrigade, in der mein Großvater diente, wurde bei Suchumi, am Schwarzen Meer disloziert. Da kann man sehen, welche riesige Bedeutung im Menschenleben ein Zufall spielen kann. Wäre Alexander Kasimirowitsch in jener Nacht nicht auf Sauftour gegangen, wäre er rechtzeitig in seiner Dienstelle erschienen, wäre er nicht vor Gericht gestellt und als Folge für einen Monat nach Tiflis in den Arrest geschickt worden. Das würde bedeuten, er wäre aus dem Arrest nicht geflohen und hätte meine Großmutter nie kennengelernt. Dann würden Sie jetzt diese Erzählung nicht lesen können, weil die Person, die sie geschrieben hat, nicht zur Welt gekommen wäre.
Alexander Kasimirowitsch war von der jungen Zhenechka verzaubert. Zusammen mit anderen Mädchen aus adeligen Familien sammelte sie Spenden zugunsten eines Waisenhauses auf dem Marktstand bei diesem Ball. Zhenechka verkaufte Blumen an einem Blumenkiosk der Wohltätigkeit. Alexander Kasimirowitsch kaufte einen Strauß und schenkte ihn der hübschen ,Verkäuferin‘. In einer Minute kam er zurück, kaufte noch einen Strauß und schenkte ihn ihr abermals.
„Würden Sie mir verraten, wie sie heißen, schöne Unbekannte?“, fragte er.
Zhenechka zögerte ein bisschen und sagte:
„Olga“.
Dieser Name gefiel ihr damals besser als ihr eigener.
Alexander Kasimirowitsch merkte, dass das nicht der Wahrheit entsprach, und sagte:
„In dem Falle heiße ich Oleg“.
Zu Erinnerung an diesen wunderbaren Abend erhielt später ihr Erstgeborener den Namen Oleg, und die Tochter – Olga.
„Darf ich Sie zu einem Tanz auffordern?“, verbeugte sich Alexander Kasimirowitsch.
„Ich darf den Kiosk nicht verlassen…“.
„Na, in diesem Falle…“.
Alexsandr Kasimirowich kaufte kurzentschlossen den ganzen Kiosk und schenkte alle Blumen der Dame seines Herzens. Sie tanzten bis zum Morgengrauen.
Zhenechka war hübsch, aber viel zu schlank und ihre Haut von der Sonne gezeichnet; sie war auch viel zu quirlig, viel zu agil, um in Georgien für eine Schönheit gehalten zu werden. Eine anerkannte Schöne war ihre jüngere Schwester Eleonora. Mit weißer Haut, graziös und majestätisch wie ein Schwan. Sie war mit einem russischen Offizier namens Slinko verheiratet, der nach der Februarrevolution zum Gouverneur in Usbekistan  ernannt wurde.
„Das samarkandische Exekutivkomitee bestand aus den Vertretern der bürgerlichen Anwaltschaft, der vorigen zaristischen Beamten. Das samarkandische Komitee ernannte den zaristischen Oberst Slinko zum Militärgouverneur und zu seinem Helfer den bekannten Archäologen W.L. Wjatkin. („Die Geschichten der Völker Usbekistans» vom Ende des XV. bis Anfang des XX. Jh., 2. Band, Taschkent, Verlag "Fan"
1993).
„Seitens der Weißen war der Oberst des Generalstabes Slinko (der nachher das Pseudonym Urussow angenommen hat), der talentvolle und energische Mensch, mit der hell sozialistischen Färbung. Diese zwei Gruppen und zwei Personen kämpften heimlich gegeneinander, seit langem, bis endlich, im offenen Kampf, der rote gesiegt hat. Dann sollte Slinko in Transkaspische  Gebiet flüchten, wo es ihm zusammen mit anderen gelang, die rote Macht zu stürzen“.
„Aus Samarkand ist Oberst Slinko angekommen und er wurde Stabschef der weißen Truppen. Dann kamen die Generäle, die sich bis jetzt bis zur Klärung der Lage versteckt haben (Lastotschkin, Kruten, Duschkin, Judenitsch). (
Aus dem Werk von B.N.Litwinow «Der Weise Turkestan»).
In der kurzen Zeit seines Amtes als Gouverneur wurde die Schönheit seiner Ehefrau, der Schwester meiner Großmutter, wohl in ganz Samarkand bekannt. Der Emir von Buchara war so sehr von ihrer Schönheit beeindruckt, dass er ihr – als der Ehefrau des Gouverneurs – ein Smaragdkollier schenkte, das übrigens ins Buch der größten Werte des Russischen Imperiums eingetragen wurde. Aber wie es so oft mit den berühmten Schmuckstücken passiert, brachte dieses Geschenk nur Unheil über die Familie. Nach der Oktoberrevolution 1917 wollten die Tschekisten das berühmte Schmuckstück haben. Bei der Durchsuchung wurde es aber nicht gefunden. Die Tschekisten drohten, die ganze Familie umzubringen, sollte innerhalb dreier Tage das Kollier nicht auftauchen. Am nächsten Tag kam aber der Machtwechsel, die Stadt gehörte nun wieder den Weißen. Als die Roten wieder kamen, war die Geschichte offensichtlich vergessen. Das Kollier tauchte aber nicht mehr auf. Die Großmutter erzählte darüber nicht gerne. Nur einmal erwähnte sie, dass sie ihren Bruder Solomon heimlich verdächtigte, da er ,ein wahrhafter georgischer Fürst war, ein Bummler und Spieler.‘
Slinko ist im Bürgerkrieg umgekommen. Später hat Eleonora wieder geheiratet und lebte mit ihrem zweiten Mann glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Sie behielt aber den Familiennamen ihres ersten Mannes bei. An Großmutter Elo erinnere ich mich sehr gerne. Sie war vollschlank, immer gut gelaunt und eine begabte Köchin. Sie kochte meistens sitzend, wie es viele Georgierinnen tun. Ich half ihr beim Bohnen putzen, Auberginen und Tomaten zu schneiden…ihre Gerichte dufteten herrlich.

Meine Großmutter dagegen hasste Hauswirtschaft, wie übrigens alles, das keine wahre Freude bringt. Der liebe Gott beschenkte sie mit seltener Lebensfreude und Optimismus. Schade, dass mein Vater von diesem Erbe kaum etwas mitbekommen hatte, alles ging an seine Schwester, die „Schöne Olga“, die für immer ihren Kindernamen Ljoka trug, den sie in Kindheit von ihrem Bruder, meinem Vater bekam. Sie behielt auch ihr wunderschönes Aussehen bis ins hohe Alter. Mit wunderbarer Leichtigkeit fegte sie alle Aufregungen von sich. „Kebenimateri!“, lächelte sie mit seltenem Charme und ging weiter über allen Kummer hinweg. Ihr Charme eroberte sogar die prüden georgischen Herzen, die ihr dieses russische Schimpfwort leicht verziehen.

In der Familie sind die Geschichten überliefert, die Märchen ähnlich sind.
Kurz vor der Hochzeit hatte meine Großmutter einen prophetischen Traum: Sie kommt in eine Kirche, der Priester überreicht ihr eine Hundertrubel Banknote, in der drei Türkissteine enthalten sind. Ein Stein löst sich und fällt zu Boden. Großmutter erläuterte diesen Traum so: Sie gebar in ihrer Ehe drei Kinder. Die jüngste Tochter Maria starb im Säuglingsalter. Das war eben der herausgefallene Edelstein.
Die Freigiebigkeit meines Großvaters eroberte die Herzen seiner neuen georgischen Verwandtschaft, die zwar vornehm war, aber zu dieser Zeit infolge ihres großzügigen Lebensstils ziemlich verarmt. Als Hochzeitsgeschenk hat er alle Pfandbriefe zu ihren Häusern losgekauft und seiner Braut dargebracht.
Nach der kirchlichen Trauung fuhr das junge Paar nach Eschery, ein Städtchen am Schwarzen Meer in der Nähe von Schumi, wo Großvater sein Herrenhaus hatte.
Als ich an der Schwarzmeerküste des Kaukasus lebte, fuhr ich oft mit der Vorortbahn an diesem Ort und diesem Haus vorbei, ich sah aus dem Waggonfenster die alten Ulmen und einen Teil des Portals mit Säulen. In sowjetischen Zeiten befand sich darin ein Sanatorium. Wie oft wollte ich aussteigen und dieses Haus aus der Nähe anblicken, aber mich störte etwas, in meiner Seele wütete plötzlich ein Sturm, und ich versprach mir, dass ich das unbedingt nächstes Mal machen würde.
Niemals darf
 man etwas verschieben! Es kann sein, das das nächste Mal nicht kommt. Ich verließ den Kaukasus, bevor es mir gelang, meine Absicht auszuführen. Später wütete durch Abchasien ein neuer Krieg. Ob du, unser altes Haus, noch lebst? Es macht nichts, dass du seit langem nicht mehr unser bist, Hauptsache, du muss weiter leben! Für mich ist es sehr wichtig, dass du lebst!
Ein seltsames Gefühl hatte ich im Kloster von Novyj Afon, als ich vor dem Taufbecken stand, wo mein Vater als Baby getauft wurde.
„Sascha sagte: ‚Kaufe niemals den Kindern hässliches Spielzeug‘,‘‘ das sagte meine Großmutter so, als ob es sich um ein geistiges Testament ihres lieben Ehemannes handelte.
Noch eine meiner Lieblingsgeschichten war die Geschichte über das weiße Schaf. Man verloste es auf dem Jahrmarkt. Mein – in jener Zeit vierjähriger Vater – forderte seinen Vater auf, ihm das Tier sofort zu kaufen. Er liebte Tiere schon damals über alles. Mein Großvater war natürlich bereit, jeden beliebigen Preis zu bezahlen, um den Wunsch seines Sohnes zu erfüllen. Der Wirt lehnte jedoch ab, das Schaf zu verkaufen, stattdessen schlug er vor, Lotteriescheine zu kaufen. Großvater hat einen Schein gekauft, dann noch einen, gewann aber nichts, so hat er alle Lose auf einmal gekauft. Zur großen Unzufriedenheit des Wirts, da er sich von seinem Schaf gar nicht trennen wollte, so machte Großvater seinem Sohn das größte Geschenk seines Lebens.
Es war auch sein letztes Geschenk. Nach einigen Tagen ging Alexander Kasimirowitsch wieder an die Front. 1919 sah man ihn auf der Krim. Jemand erzählte meiner Großmutter, dass ihr Mann das letzte Schiff erreicht hätte, es wurde aber einige Meilen von der Küste von einer Mine gesprengt.
Eugenia Aleksandrowna war gezwungen mit zwei Kindern, und mit dem dritten Kind schwanger, das wunderbare Haus in Eschery zu verlassen und sich zurück nach Tiflis zu begeben. Kostbare Schmuckstücke, die sie besaß, packten sie und ihr Kindermädchen in die Windeln der kleinen Olga. Das Baby wurde so schwer, dass zwei fragile Frauen es nur schwer tragen konnten.
Ich habe vom sagenhaften Schmuck meiner Familie fast nichts zu sehen bekommen. Die Revolution, der Bürgerkrieg, Witwenstand, Hunger und der neue Krieg haben all das „absorbiert“. Meine Großmutter hasste Armut, sie trennte sich von den Steinen ohne jedes Bedauern, ein schöner Alltag und die einfachen Freuden des Lebens waren ihr wichtiger. Die Einsparungen oder, sagen wir, die Sparsamkeit, das war meiner ganzen Familie fremd, von der väterlichen, sowie auch von der mütterlichen Seite. Meine Verwandtschaft neigte eher zur Verschwendung.

Anukela war ihr Leben lang ein Kindermädchen in der Familie meiner Großmutter. 1888 – selbst noch fast ein Kind – sorgte sie sich um meine neugeborene Großmutter, später half sie ihr, ihre Kinder großzuziehen, und dann, als meine Tante zur Mutter wurde, umsorgte sie deren drei Söhne. Revolutionen und Kriege rollten über das Land, die Regierungen wechselten, nur Anukelas Liebe blieb unerschütterlich. Sie wurde 99 Jahre alt. Klein wie ein Kind, starb sie langsam auf den schneeweißen Laken im Haus meiner schönen Tante, die sich bis zur letzten Stunde zärtlich um sie kümmerte.
Ich erinnere mich an Anukela, Annuschka, als sie schon ganz alt war. Stundenlang polierte sie das Geschirr mit dem Geschirrtuch bis zu königlichem Glanz. Dabei murmelte sie mit leiser Stimme ihre unendlichen georgischen Geschichten. Die Anwesenheit unserer Kinderfrau in unserer Familie war sehr wichtig. Mit ihrem Abgang wurde die Verbindung zwischen den Zeiten zerstört, es wurde der ohnehin mit den Jahren immer dünner gewordene Faden abgerissen. Dieser wichtige Faden, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verband.

Als Großmutter keine Schmuckstücke mehr zu verkaufen hatte, fand sie Arbeit in einer Parfümfabrik. „Mein Gott, wie ich nach diesem ekelhaften Rosenöl gestunken habe!“, beklagte sie sich später und erzählte so eine Geschichte:
„Einmal stehe ich in der Reihe neben dem Kerosin, das aus einem Fass auf der Straße verkauft wurde, ich genieße so recht seinen Geruch. Sogar nachdem meine Kanne voll war, wollte ich nicht gehen. Als meine Hand sich doch auf den Griff der Kanne legte, bat der Verkäufer mich fast mit Tränen: ,Bitte, Genazwali[1], geh doch nicht weg, bleib noch eine Weile stehen. Du riechst so schön nach Blumen! Ich kann dieses Ka-ra-sin nicht mehr ertragen‘!
Zehn Jahre nach dem Tod meines Großvaters hat meine Großmutter wieder geheiratet. Der neue Ehemann vergötterte sie auch.

Konstantin Michajlowitsch Obnowlenskij
liebte auch ihre Kinder so sehr, dass er sogar keine eigenen Kinder haben wollte: „Damit Zhenechka nicht glaubt, dass ich meine eigenen Kinder mehr lieben würde…“.
Als Sohn eines Priesters, eines Oberhauptes der Kirche in der Marktgemeinde Bukrino, hatte er den Beruf eines ,Pferdedoktors‘ gewählt. Er wurde zum Veterinär beim Militär und beendete seinen Dienst im Rang eines Obersten, genau wie mein leiblicher Großvater, aber nicht in der Weißen, sondern in der Roten Armee.
Sein Vater Michail Obnowlenskij war in seiner Zeit auch eine berühmte Persönlichkeit. Nach der Oktoberrevolution wagte er es sogar, die Rechte der Kirche zu behaupten, und hatte einen öffentlichen Streit mit dem Kulturkommissar der ersten Sowjetischen Regierung, Lunatscharskij.

«Die Kirche in Bukrino wurde 1867 aufgebaut. 1890 war die Kirche veraltet, da kam die Frage über den Bau eines neuen Ziegeltempels auf, an dem alle Bewohner des Dorfes interessiert waren. Der Initiator und Leiter in dieser Sache war der Priester Michail Obnowlenskij, der auf der Suche nach Mitteln und nach willigen Spendern war. Er sandte Briefe in die Kreisstadt Pronsk, nach Moskau und nach St. Peterburg, an die wohlhabenden Bürger mit der Bitte, materielle Hilfe zum Bau des Tempels im Dorf Bukrino zu leisten.
Die Bewohner des Dorfes Bukrino nahmen aktiv am Bau teil, halfen unmittelbar im Laufe des Bauens. Mit solchem Enthusiasmus gelang es, dass die Kirche innerhalb von 14 Jahren (1890 -1904) aufgebaut wurde.

Im Tempel gab es drei Altartische: zu Ehren der Hl. Dreifaltigkeit, des Erzengels Michail und der Geburt Christi. Auf der Ikonenwand waren 12 Apostel, der Erlöser Jesus Christus, die Hl. Gottesmutter und viele andere Heilige dargestellt. Die Chöre wurden von den großen Ikonen abgetrennt: rechts – Nikolaj, der Wundertäter, links - Serafim Sarowski. Beim Eingang in den Tempel: Gott der Vater, Gott-Sohn und  der Heilige Geist, in Form einer Taube. Der Tempel besaß fünf Kuppeln und einen Glockenturm . . .
1934 wurde die Kirche geschlossen. Nach der Schließung mutierte sie zum Kornspeicher und zur Vorratskammer der Kolchose. Später wurden dorthin das tote Vieh und die Fische aus dem Teich entsorgt. Die Kirchenbücher wurden in Keller geworfen, die Glocken wurden gestürzt, der Glockenturm verbrannt, die Einzäunung als Brennholz verwendet, die Bäume abgesägt. Die Ikonenwand wurde verkauft, die Gräber dem Boden gleichgemacht.
Der erste Priester des neuen Tempels war Vater Michail (Obnowlenskij), ein hochgebildeter Mensch, der Französisch, Englisch und Deutsch sprach.
Vater Michail hatte zwei Söhne, Nikolaj und Konstantin, und eine Tochter, Nina. Diese Tochter wurde Lehrerin im Dorf, fuhr aber vor der Kollektivierung nach Leningrad zu ihrer Tochter, dort unterrichtete sie Literatur an der Mittelschule. Sie starb im September 1945, nach der Blockade Leningrads. Sohn Nikolaj arbeitete in Moskau als Internist. Sohn Konstantin war Tierarzt und lebte in Tiflis.

Ich fand auch weitere Texte über die Familie Obnowlenskij, dazwischen Auszüge aus Erinnerungen von L.M. Jazkewitsch. Über Familie Jazkewitsch, in der in allen Generationen die Männer zu Priestern wurden, habe ich bei uns zuhause oft gehört, es wurde von ihr immer mit großer Achtung gesprochen.
Das schreibt L.M. Jazkewitsch:
«Die Schwestern meines Vaters Michail Alexandrowitsch kannte ich eher nach dem Familiennamen ihrer Männer - Orlowa, Bogoljubowa, Obnowlenskaja. Cousin Konstantin Obnowlenskij war mit einer georgischen Witwe verheiratet. Ihr erster Mann schied früh aus dem Leben, sie blieb mit zwei Kindern allein zurück. Konstantin diente zu jener Zeit im Dienstgrad des Obersten als Tierarzt. Er war einmal im Theater und hat in der Loge eine schöne Georgierin gesehen. Die gesamte Vorstellung richtete er sein Fernglas nur auf sie: Eugenia war nicht nur schön, sie war auch eine Prinzessin nach der Herkunft aus dem Geschlecht Tarchan-Mourawi.
Na ja! Wie man es schön sagt, die Schönheit entsteht in den Augen der Betrachters!

Konstantin Michajlowitsch verband mit seiner Frau eine leidenschaftliche Liebe zu Tieren. Sie lebten im ersten Stock eines alten Hauses. Die verglaste Galerie, mit einem kleinen Schlupfloch, die über die ganze Wohnung entlangging ging, schaute in den Hof hinaus und berührte das Blechdach des Portals. Über dem Portal breitete sich eine alte Ulme aus.
Jeden Morgen brachte Konstantin Michajlowitsch aus dem Geschäft frische Brötchen, Milch und ein paar Kilo tierischer Innereien oder kleine Fische. Fisch war übrigens in der UdSSR spotbillig. Auf seine Rückkehr warteten bereits im dicken Laub die gelben und grünen Flämmchen der unzähligen Katzenaugen, die alle Bewegungen in der Galerie aufmerksam beobachteten.
Dann ,Gong!‘, Großvater schlägt mit dem Löffel über die Pfanne: „Das Essen ist serviert, meine Damen und Herren!“
Ein schreiender, brüllender, miauender Hurrikan drängt durch das Schlupfloch in die Galerie. Die hungrigen Tiere, lärmend einander stoßend, zerren Essen in alle Ecken. Nach einigen Minuten rollte der Hurrikan wieder zurück, es blieben nur Fischschuppen und schmutzige Flecken zurück. Die satte und faule Hauskatze Dascha betrachtete mit tiefster Abneigung diese Feier der Lumpenproletarier. Dann nimmt der Großvater zwei volle Schüsseln und trägt sie nach unten, wo zwei rothaarige Promenadenmischlinge auf ihn warten. Sie lecken dankbar seine Hände. Also, war das kein Franziskus von Assisi?!
Als mein Vater ein Teenager war, hatte er eine Ente, die ihn in die Schule begleitete. Am Nachmittag ging sie wieder zur Schule, um ihn abzuholen. Woher wusste sie, wann genau sie gehen musste?

Ob die Ehe meiner Großeltern eine perfekte Ehe war? Sie zankten sich nie, aber man konnte glauben, dass sie einander kaum interessierten. Sie störten einander einfach nicht, jeder führte anscheinend sein eigenes Leben.
Ordnung im Haus bedeutete die völlige Abweichung von allgemeinen Gepflogenheiten. Ein Fixpunkt war die Fütterung der obdachlosen Tiere. Der Großvater verbrachte Stunden in seinem Lieblingsschaukelstuhl bei Lektüre oder über einer Stickerei. Doch stickte er nicht mit Plattstich, wie der schwedischer König Gustav der V., sondern mit Kreuzstichen. Ich habe immer noch die Kissen mit seinen Stickereien. Er hat damit angefangen, als er der operierende tierärztliche Chirurg war, weil diese Beschäftigung die Geschicklichkeit seiner Finger trainieren sollte, später wurde das zu seiner Angewohnheit.
Konstantin Michajlowitsch war eigentlich ein Stubenhocker mit einem unausrottbaren Durst nach Reisen, den er damit befriedigte, dass er Ansichtskarten sammelte. Ich habe von ihm ein Album mit solchen Karten geschenkt bekommen. Die Kölner Kathedrale beeindruckte mich so sehr, dass es zu meinem größten Traum wurde, sie mit meinen eigenen Augen zu sehen. Dieser Traum hat sich erst nach dreißig Jahren erfüllt! Die Kathedrale erwies sich als wirklich majestätisch.
Die Großmutter war hingegen eine Rastlose, ihr gefiel es, irgendwohin zu fahren, durch die Geschäfte zu bummeln, Geld auszugeben, mit Freundinnen zu schwatzen. Sie verschwand stundenlang, Gott weiß wohin.
Es schien, wäre einmal einer von ihnen nicht mehr da, würde der andere das gar nicht bemerken. Aber es schien nur so. Großmutter war niemals krank, sie blieb genau so schlank und beweglich wie in ihrer Jugend, sie hatte fast keine grauen Haare. Aber nachdem der Großvater gestorben war, bekam sie ein Jahr später die Grippe. Sie war nicht lange krank und starb am Jahrestag von Großvaters Tod.
Sie sind nebeneinander begraben. Nicht in einem, sondern in zwei Gräbern. Zwei Granitgrabsteine stehen darauf. Als ob sie ihre Souveränität auch im Jenseits bewahren wollten. Der Tod hat sie getrennt. Er hat sie aber wieder zusammengeführt.
Und wo bist Du begraben, mein leiblicher Großvater, dessen Gene in mir leben? Gibt es irgendwo dein Grab oder wurde das Schwarze – damals vom Blut schwarzes – Meer zu deinem Grab?

Und wo bist Du begraben, mein anderer Großvater? Hast Du überhaupt ein Grab?

Meine Lieblingsgroßmutter war Sophja Venediktowna Fedossejewa, ihr alleine verdanke ich alles Gute, was in mir ist. Sie stammte aus keinem vornehmen Geschlecht, sie besaß keine Diamanten und Smaragde, ihr Reichtum war anderer Art, es war nicht möglich, ihn zu verlieren.
An ihre Mutter, meine Urgroßmutter Nina, erinnere ich mich undeutlich. Es war eine meiner frühesten Erinnerungen, ich war damals zwei Jahre alt. Sie war zu dieser Zeit schon sehr krank.
Als Tochter eines christlich-orthodoxen Priesters heiratete sie einen Baptisten. Ihre Eltern waren entsetzt. Später zeigte sich doch die christliche Demut, die Familie hat Frieden geschlossen.
Meine Großmutter studierte Literatur, spielte Klavier und hatte eine wunderschöne Stimme. Sie verliebte sich aber in einen Bauernsohn aus einer kinderreichen Familie, einen Revolutionshelden, und heiratete ihn.
Also standen im Bürgerkrieg meine Großväter, beide hießen Alexander, auf verschiedenen Seiten der Barrikaden. Alexander Trofimovich Massik war Romantiker, ein Idealist, er träumte davon, alle Menschen auf der Erde glücklich zu machen. Er war sehr tapfer, wofür er nicht einmal ausgezeichnet wurde. Da es zu dieser Zeit in der Roten Armee noch keine Ordens gab, bekam er einmal aus der Hand von Leo Trotzki einen silbernen Säbel mit seinem eingravierten
Namen.
Später, nach dem Bürgerkrieg, hatten jedoch Idealismus und Tapferkeit keinen Wert mehr. Die Revolution – wie bekannt – berauschte, darauf aber folgte Nüchternheit. Vieles war anders, als man sich erhoffte. In Jahre 1937 ließ er einmal beim Tafeln mit guten Freunden fallen, dass Trotzki ein guter Redner war, er kannte ihn doch persönlich, wie übrigens auch viele andere Anführer der Revolution. Am nächsten Tag wurde der Großvater verhaftet.
Meine Großmutter hat in voller Verzweiflung alles zusammengesammelt, was wertvoll war, einschließlich des unglücklichen ,trotzkistischen‘ Säbels, und hat sich nach Moskau zu Budjonny begeben, der meinen Großvater gut kannte. Zu Semjon Michajlowitsch persönlich wurde sie aber nicht vorgelassen, nichtsdestotrotz kehrte sie zusammen mit ihrem Ehemann zurück – es war ihr doch gelungen, ihn freizukaufen.
Aber ein Jahr später wurde Großvater wieder verhaftet. Nach bitterer Ironie des Schicksals bekam er nach der Entlassung Arbeit in der Butterfabrik, die vor der Revolution seinem Großonkel, einem sozusagen Selfmade Millionär, gehörte. Jener war einmal Leibeigener, aber sehr geschickt und arbeitsam und kaufte sich frei. Ihm gehörten übrigens noch dazu eine Mühle und eine Zuckerfabrik. Einige Maschinen bekam er aus Deutschland, auch den Separator für die Butterfabrik, bei dem übrigens ein wichtiger Teil fehlte. Nachzubestellen war nicht mehr möglich, da gerade der Erste Weltkrieg ausgebrochen war. Der lokale Schmied, ein geschickter Mann, fertigte nach seinem Verständnis den fehlenden Teil, der musste aber immer wieder erneuert und ausgetauscht werden – und so ging es weiter.
Als mein Großvater die Fabrik übernahm, wurde ihm die erste Panne zum Verhängnis: Er wurde sofort der Sabotage beschuldigt, da er in Verwandtschaft mit dem ehemaligen Besitzer stand. Der Großvater wurde wieder verhaftet. Großmutter konnte dieses Mal nichts mehr dagegen tun. Nach ein paar Monaten brach der Große Vaterländische Krieg aus und damit starb die letzte Hoffnung.
Die Großmutter blieb alleine mit drei Kindern; meine Mutter hatte einen Bruder, Valentin, und eine Schwester, Elena. Die einmal hochgeehrte Familie wurde auf einmal zur Familie eines Volksfeindes degradiert. Meine Großmutter hat ihre Arbeit verloren; sie war eine erstklassige Stenotypistin und arbeitete beim Bürgermeister. Als der Krieg ausgebrochen war, wurde die Familie nach Semipalatinsk, in Kasachstan, evakuiert.
Eine Rettung für die Familie war die Geschicklichkeit meiner Großmutter in der Handarbeit und ihr ,kommerzielles‘ Talent. Während des Krieges und in den folgenden Nachkriegsjahren hat sie alte Kleiderstücke umgenäht: aus alten, von anderen weggeworfenen Mänteln machte sie Hauspantoffel und ärmellose Westen, versah sie mit Stickereien und verkaufte alles am Flohmarkt. Was bemerkenswert ist, sie verkaufte im Handumdrehen die Sachen, mit denen meine Mutter die ganze Woche am Markt stehen konnte. Leider war sie die einzige in unserer Familie, die diese Fähigkeit besaß.
Ich liebte die Sachen, die meine Großmutter für mich nähte, sie machte das mit viel Liebe. Eine ärmellose kleine Weste mit ihrer Stickerei ist bis heute wie ein Wunder für mich.
Meine Mutter verstand alles, aber wie ich denke, tief in ihrer Seele konnte sie ihrer Mutter nicht verzeihen, dass sie den Vater nicht vor Bösem behütet hatte, Kinder haben ihre eigene Logik. Mehr als ihr eigenes Leben liebte sie ihren Vater, ihren Helden und sie hat diese Liebe bis zu ihrem Lebensende in sich getragen.
Das Porträt von Mamas sechszehnjähriger Schwester Lenotschka hing in meinem Zimmer. Stundenlang liebäugelte ich das Mädchen mit dem schönen, blassen Gesicht, das von langen, schwarzen Zöpfen umrahmt war. Alle Freundinnen beneideten sie um ihr wunderschönes Haar, das schließlich Lenotschka in den Tod stürzte. Eines Abends wusch sie ihr Haar und wollte bereits zu Bett gehen, da kamen Freunde und brachten einen Befehl: Sie müsse zum Übungsplatz eilen. Es war Krieg, die jungen Menschen, auch Schüler, mussten fleißig üben. Die Tochter des Volksfeinds wagte es nicht, den Befehl zu verweigern. Ihr Haar war noch nicht trocken, und draußen hatte es über zwanzig Grad minus. Am nächsten Tag wurde Lenotschka krank. Innerhalb von drei Tagen war sie tot.
Kurz vor diesem schicksalshaften Ereignis hatte meine Großmutter einen prophetischen Traum: Es kam eine Hurrikan, eine Windhose (in Kasachstan ist das keine Seltenheit) und trug Lenotschka fort.
Die Großmutter erzählte von dem schrecklichen Hunger, den sie während des Krieges erlebten. Menschen aßen alles, auch Gras, dadurch wurden ihre Bäuche aufgebläht und sie starben einfach auf der Straße. Die Leichen blieben lange an den Straßenrändern liegen, da es niemanden gab, der die Kraft gehabt hätte, sie zu beerdigen. Und alles das passierte nicht nur in dem belagerten Leningrad, sondern im ganzen Land, es war aber verboten, darüber laut zu reden!
Meine Großmutter lehrte ihre Kinder, den Hunger zu erdulden und auf keinen Fall Nicht-Essbares zu essen, so hatte man eine Chance, doch am Leben zu bleiben.
Als meine Mutter sechzehn war, wurde sie in die Kohleminen nach Karaganda geschickt. In Kriegszeiten waren alle Bürger verpflichtet, dort zu arbeiten, wohin man sie schickte. Das Mädchen stand bis zu ihren Knien im Wasser, neben den männlichen Grubenarbeitern. Dann hatte eine Seele Mitleid mit ihr, ihr wurde angeboten, Autofahren zu lernen. Ein Lenkrad in der Hand zu haben, das war schon ein reines Glück! Aus meiner Mutter – furchtlos wie ihr Vater – wurde eine tapfere Autofahrerin.

Kaum war die Ukraine befreit, kehrte die Familie nach Charkow zurück. Dort arbeitete meine Mutter wieder als Chauffeur. Ihr Vorgesetzter war mein zukünftiger Vater. So führte das Schicksal meine Gene und Chromosomen zusammen … Meine Mutter war zwanzig, als ich geboren wurde, mein Vater dreiunddreißig.
Mein Vater, ein Halbgeorgier, verbot seiner Frau zu arbeiten. Übrigens, obwohl mein Vater der Direktor des Autotransportbetriebs war, habe ich ihn niemals am Steuer gesehen. Wir besaßen auch nie einen eigenen Wagen, wozu auch, wenn man einen Dienstwagen mit Fahrer hat!
Zuhause konnte mein Vater nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen, alle Reparaturen – von einer elektrischen Leitung bis zum zerbrochenen Sessel – erledigte unsere Mutter. Bei Jerome K. Jerome ‚Three Men in a Boat‘, gibt es ein Onkelchen, das ein Bild an die Wand zu hängen versuchte. Als ich diese Geschichte las, sah ich meinen Vater: Großmutter bringt die Leiter, ich halte sie, mein Bruder reicht Vater den Hammer, Mutter streckt ihm das Bild hin, Vater nimmt den Hammer, schlägt statt auf den Nagel auf seinen Finger, der Hammer fällt ihm auf den Fuß, er schreit auf, die Leiter fällt um, das Bild kracht auf den Boden, das Glas zerbricht, der Vater…  Also, ohne heftige Worte geht so etwas nicht ab.
Meine Mutter dagegen hat von ihrer Mutter das Talent zur Handarbeit geerbt. Als Autodidaktin wurde sie zu einer erstklassigen Schneiderin und dann begann sie auch Modelle entwerfen. Vater hatte nichts dagegen, wenn sie zuhause arbeitete, ihre Kundinnen waren doch alle Frauen, so hatte er keinen Grund, eifersüchtig zu werden.
Erst nach der Scheidung leitete meine Mutter ein Modeatelier. Sofia Rotaru, später eine berühmte Sängerin, die ihren ersten Auftritt bei einem Wettbewerb in Moskau wagte, trug ein Kleid, das meine Mutter entworfen hatte. Das Konzert junger Talente wurde im ganzen Land übertragen. Sofia gewann damals den ersten Platz. Als die Moderatorin fragte, wer für sie so ein wunderschönes Kleid gefertigt hätte, nannte sie den Namen meiner Mutter. So wurde meine Mutter über Nacht berühmt: Ihr Atelier wurde von Bestellungen überflutet. Sie entwarf Kleider für die Chöre und Tanzgruppen. Man muss erwähnen, dass es damals im ganzen Land, besonders in der Ukraine, wo meine Mutter lebte, unzählige solcher Gruppen gab, die von reichen Kolchosen finanziert wurden. Das Atelier hatte Bestellungen aus der ganzen Ukraine. Infolge versorgte meine Mutter dabei die Frauen der gesamten Region mit Arbeit. Die Ukrainerinnen sind übrigens sehr geschickt, besonders beim Sticken.

Einmal, als meine Mutter bei uns in Wien zum Besuch war, meinte ich beim Mittagessen: „Mama, iss nicht so viel Brot, man wird dick von Brot!“. Meine Mutter legte das Stück auf den Tisch und wendete sich ab. Ich sah Tränen in ihren Augen: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich nicht nur von einem Stück Kuchen geträumt habe, sondern davon, mich endlich mit Schwarzbrot satt zu essen“, sagte sie dann. So viele Jahrzehnte vergingen, sie konnte aber das Hungertrauma der Kriegszeiten immer noch nicht bewältigen.
Ich muss sagen, meine Mutter liebte ihren österreichischen Schwiegersohn (meinen Ehemann) mehr als ihre eigene Tochter. Als sie erfuhr, dass sein Vater in Russland gekämpft hatte und in Gefangenschaft war, schwieg sie lange und dann erzähle sie so eine Geschichte: „Es war bereits als wir nach Charkow zurückkehrten, ich war neunzehn Jahre alt. Da führte man eine Kolonne von gefangenen deutschen Soldaten. Wen wunderte es, dass ich damals alle Deutschen hasste, dafür, was sie unserem Land angetan haben. Dann sah ich, wie eine Frau einem gefangenen Deutschen ein Stück Brot zusteckte. Mich überflutete Zorn, ich wollte dieses Stück Brot auf dem Boden zertrampeln“. Sie schwieg wieder und sagte dann nachdenklich: „Und jetzt denke ich daran, dass es vielleicht der Vater von deinem Mann sein könnte“.
Hass wurde längst in die mit Blut durchtränkte Erde versenkt … Es ist die Zeit für die Liebe gekommen …
Inzwischen hat mein Schwiegervater auch gehasst, aber nicht diejenigen, die ihn gefangen genommen haben, sondern diejenigen, die ihn zu Kämpfen in einem fremden Land gezwungen haben. Mich verwunderte, dass er aus der Gefangenschaft eine große Liebe zu Russland und zu den Russen mitbrachte. Auf dieses Phänomen bin ich übrigens nicht nur einmal gestoßen – wie in Österreich, so auch in Deutschland. Einmal hörte ein Deutscher wie ich mit einer Freundin Russisch sprach – er stürzte auf uns zu, umarmte uns und schrie: „Sie sind Russinnen! Ich war in Sibirien, in der Gefangenschaft. Ich hatte dort meine Mascha!“
Später habe ich einen Artikel von Konrad Lorenz gelesen, in dem er seine Gefangenschaft in Russland mit großer Sympathie zu Russen beschrieb.
Wie immer schmeichelhaft das alles sein könnte, denke ich doch daran, dass es nicht nur allein ein Verdienst der ,russischen Seele‘ wäre, die sogar die Herzen ihrer Feinde erobert. Es ist Verdienst auch derjenigen, die fähig sind, das Gute auch in einem Feind zu sehen, und in deren Seele Platz für Großmut bleibt. Ich verbeuge mich vor den Menschen, die fähig sind, ihr eigenes Leben so sehr zu schätzen, dass sie sogar unter bösen Umständen Gutes finden. Die Gefangenschaft ist auch ein Stück deines Lebens, man darf das nicht einfach weg weisen, wie bitter es auch sein mag, es ist Teil deines – einzigen – Lebens. Diese Deutschen und Österreicher haben in sich Kraft gefunden, ihre Erinnerungen nicht mit Hass, sondern Verständnis, auszufüllen.
Als meine Mutter vom gefangenen Deutschen erzählte, sagte ich: „Also, es sieht danach aus, dass mein Großvater und mein Schwiegervater während des Krieges ihre Gewehre aufeinander richteten“.
Erst an diesem Tag erfuhr ich, dass mein Großvater nicht im Krieg gefallen war, sondern im Gulag verschwand. Man hat vor uns Kindern das all die Jahre über geheim gehalten.
Später fragte ich, warum hat meine Mutter sich nicht um Rehabilitierung ihres Vaters bemüht. „In meinem Herzen war sein Name immer rein!“, sagte sie. Über Politik wurde bei uns zuhause kaum geredet, aber ich wusste immer, dass mein Vater nie ein treuer sowjetischer Bürger war, er hasste dieses ganze System, aber Selbsterhaltungsmechanismen sind in jedem Menschen von Natur aus eingebaut. Ich weiß nicht, mit welchem Gefühl ich aufgewachsen wäre, hätte ich von Anfang an die ganze Wahrheit gewusst. Von mütterlicher Seite wäre ich dann eine Enkelin eines ,Volksfeindes‘, und von väterlicher ein Nachkommen des ,Klassenfeindes‘...

Meine geistige Mutter war meine Großmutter Sofja Venediktowna, sie verfügte über eine seltene Gabe – Liebe zu Kindern. Sie langweilte sich mit uns niemals. Viele Märchen bewahrte ihr Gedächtnis! Jeden Abend fand sie in ihrer ,Schatzkammer‘ eine neue Geschichte. Sie sang mit ihrer weichen Stimme schöne russische Lieder. Zwei davon beeindruckten mich am meisten. Eines war ein Gedicht von Puschkin über die Schönheit der Natur und wäre es ein Sturm. In dem anderen Lied ging es um einen Räuber, der viele Menschen getötet hatte, aber schließlich weckte Gott sein Gewissen. Dann ging er in ein Kloster, um Gott und den Menschen zu dienen. Die letzten Worte des Liedes rufen dazu auf, für die Seele dieses Räubers zu beten.
Kartoffelschmarren nannte Großmutter Puschkins Kartoffel, sie hat behauptet, dass Puschkin das gerne gegessen hatte. Meine Großmutter brachte Puschkin in mein Leben, so wie Nekrassow, Turgenew, Tschajkowskij, Ilja Muromez, Dobrynja Nikititsch, reale und Fabelpersonen, die dem Guten dienten.
Als Großmutter starb, war ich zwölf. Ich war versteinert. Tränen hatte ich nicht. Ich hatte Angst. Als der Sarg ins Grab gesenkt wurde, fragte ich mich, wer wird mir jetzt die Märchen erzählen, erst in diesem Moment überschwemmten mich die Tränen. Nach Großmutters Tod sind die Märchen aus meinem Leben weggegangen, das Leben wurde unbarmherzig, meine Kindheit ging verloren …
Dann ließen meine Eltern sich scheiden. Die Scheidung brachte neuen Schmerz.
Ich versuche, meine Eltern zu verstehen. Sowohl die Mutter, wie auch der Vater, haben als Kinder ihre Väter verloren. Sie wuchsen in Angst und Trauer auf, sie hatten oft niemanden, der sie trösten konnte, da ihre Mütter ums Überleben kämpfen mussten. Die Revolution und die Kriege zerstörten ihr Leben, sie nahmen ihnen die Geborgenheit. Man könnte denken, dass gerade sie gut wissen sollten, wie wichtig Geborgenheit für ihre Kinder wäre...
Wussten sie das? Sie liebten einander und liebten ihre Kinder, aber sie konnten ihnen nicht das geben, was sie selber nie gehabt hatten… So erfüllt sich das Biblische: „
verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation …“. Wir sind verdammt, unseren Schmerz in uns zu tragen, und geben ihn ungewollt an die nächste Generation weiter. Vor diesem Erbe ist keiner geschützt.
In meinen Adern fließt das Blut vieler Nationalitäten und vieler sozialer Schichten. Einige meiner Vorfahren herrschten und genossen Reichtum, andere kämpften ums nackte Überleben…
Alles das ist mir zugefallen! In meinen Adern fließen die Konflikte der Zeiten...

 



[1] Georgisch : Gnädige Frau / gnädiger Herr