Da ich oft in meinen Werken die Ich-Perspektive verwende – übrigens auch dann, wenn meine Protagonisten Männer sind –, werde ich immer wieder von meinen Lesern gefragt, ob meine Romane und Kurzgeschichten autobiographisch sei.

 

Dazu kann ich nur sagen, dass die Ich-Perspektive bei Schriftstellern aller Zeiten immer sehr beliebt war, und ich schliße mich diesem Zugang an.

 

Warum tue ich das? Weil diese narrative Art des Erzählens eine besondere emotionale Nähe zu den Lesenden aufbaut.

 

Also, suchen Sie bitte bei meinen Ich-Erzählerinnen keine Hinweise auf die Biographie der Autorin, sie gibt es nicht. Auch wenn – nach Freud –, in gewisser Weise autobiographisch ist, muss ich ergänzen, dies nur in dem Sinne, als unsere Taten unsere Persönlichkeit widerspiegeln.

 

 

Sophia Benedict

 

AUTOBIOGRAFIE

 

Mein Erscheinen in dieser Welt schien mir immer schon auf einem Irrtum zu basieren. Ich habe das Gefühl, ich sei am falschen Ort, im falschen Land oder gar am falschen Planeten geboren worden. Die verschiedenen Ströme des Bluts meiner Vorfahren sind wohl in erbitterte Kämpfe miteinander verstrickt – viel zu sehr unterscheiden sich meine Vorfahren vom Charakter her, aber auch nach der nationalen und sozialen Zugehörigkeit. In meinen Adern fließt das blaue Blut der Fürsten und das edle Blut der Werktätigen, die sich ihr Brot mit schwerer Arbeit verdienten. Die Verschiedenheit all dieser Strömungen zerreißt mich förmlich.

 

Beide Großväter waren Helden des Bürgerkriegs (1918-1920), aber sie standen auf der jeweils anderen Seite der Barrikade. Im Großen Vaterländischen Krieg war mein Vater Offizier der Roten Armee, geheiratet habe ich einen Mann, dessen Vater im selben Krieg in den Diensten der Wehrmacht stand. Allerdings zeichnete der Schwiegervater sich durch eine Besonderheit aus: Er geriet beim Stalingrad in Gefangenschaft und brachte nach fünf Jahren – wer hätte das gedacht? – eine tiefe Sympathie für Russland nach Hause mit, was ihm seine Frau nie verzeihen konnte. (Übrigens auch Konrad Lorenz hegte nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft tiefe Sympathie für die Russen, was ihm manche Landsleute nie verziehen haben.)

 

Jetzt lebe ich schon seit über dreißig Jahren in Wien, mein österreichischer Mann aber ist ganz nach Moskau gezogen. Unser Sohn liebt ungeachtet sämtlicher Sanktionen sowohl sein österreichisches Vaterland als auch seine russische Heimat.

 

In meine Kindheit ging auch vieles durcheinander – Übersiedlungen, immer wieder neue Schulen, neue Abenteuer, neue Freunde, neue Verluste, neue Bitternis…

 

Am liebsten von allen Menschen hatte ich meine russische Großmutter, Sophia Venedictovna Fedosejeva. Daher kommt auch mein Künstlername Sophia Benedict. Ihr habe ich meine guten Seiten zu verdanken. Ihre Märchen liebte ich, bis heute lasse ich mich von ihnen leiten. Sie rezitierte Puschkin und Nekrassow, sang uns ihre Lieder vor. In mein Bewusstsein sickerte das Lied vom Räuberhauptmann Kudiar, der viel vergoss, das später bitterlich bereute und ins Kloster ging, um Gott und den Menschen zu dienen. Das war die schönste Geschichte, die ich je gehört habe, es hat offensichtlich meine Weltsicht grundlegend beeinflusst: Die Welt ist hart, aber es gibt immer darin Platz für das Gute. Meine Großmutter starb, als ich zwölf war. Bald ließen sich meine Eltern scheiden.

 

Das Schicksal führte mich mit meinem Vater nach Tbilissi in Georgien und später nach Abchasien. Mit dieser Zeit verbinde ich tiefe Traurigkeit, das Meer, die Palmen, felsige Strände, die erste scheue Liebe, den aufbrausenden Vater, die harte Stiefmutter und viele gute Freunde, von denen ich mich später wieder trennen musste...

 

Dann kam Kasan. Die Universität. Journalismus. Schon als Schülerin schrieb und veröffentlichte ich, das war meine eigentliche und einzige Berufung sowie auch Berufung. Gleichzeitig sammelte ich Lebenserfahrungen, indem ich in vielen Bereichen gearbeitet habe: Ich war Schreibkraft, mobile Buchhändlerin, Sekretärin, Komsomolvorsitzende, Animateurin, Schneiderin und Friseurin, und dann endgültig – literarische Mitarbeiterin, Chefredakteurin einer Zeitung, Assistentin in der Hochschule für Theaterwissenschaft, Hörfunkjournalistin und Filmschauspielerin, ich habe Drehbücher für Film und Fernsehen geschrieben…

 

Auch meine Geografie ist weiträumig. Ich habe die halbe ehemalige Sowjetunion bereist, und habe in Ukraine, im Fernen Osten, in Georgien, Abchasien, an der Wolga und in Moskau gelebt …

 

Nach meiner Übersiedlung nach Wien war ich Wissenschaftsjournalistin und Übersetzerin. 1995 erschien bei Nauka, dem renommiertesten russischen Wissenschaftsverlag, mein erstes Buch. Kurz danach erschienen vier weitere Sachbücher von mir als Autorin und vier grundlegende psychoanalytische Werke von mir als Übersetzerin aus dem Deutschen übersetzt. Viele Jahre lang war ich für die zentralen Moskauer Zeitungen beim BKA in Wien akkreditiert. Hunderte Artikel wurden in den russischen Medien veröffentlicht.

 

Es heißt, Arbeit sei zwar gut, aber man müsse auch etwas Nützliches tun. Außer der Malerei und Bildhauerei habe ich eine große Leidenschaft, die mein zweiter Beruf wurde, nämlich die Fotografie. Die Wanderlust verließ mich nicht: Im Ergebnis erschienen zwei Dutzend Bücher mit Reiseberichten.

 

Vor kurzem erschienen in Deutschland ein Lyrikband, zwei Romane. Alles auf Russisch und auf Deutsch. Derzeit arbeite ich an einem Roman über eine Österreicherin, ihr schwieriges Schicksal und die schwierige Zeit, in der sie lebte.

 

 Mein Beruf und meine Art zu leben habe nicht ich mir ausgesucht, sondern sie haben mich erwählt. Ich bitte mein Publikum um Verzeihung für meine Traurigkeit: Ich schreibe über das Leben, und wer würde sagen, dass das Leben lustig ist? Mein schöpferisches Kredo mag altmodisch klingen, aber ich halte für keine gute Literatur die Werke über so genannten Antihelden und Kriminellen, für mich sind die Darstellung von Gewalt und die Glorifizierung des moralischen Verfalls mit Literatur unvereinbar. Schriftsteller zu sein ist eine große Verantwortung. Wir wissen Bescheid um die Vielschichtigkeit des Menschen. Sowohl das Gute als auch das Böse sind ihm eigen. Wenn ich nicht seine guten Seiten, sondern die niedrigsten Veranlagungen wecke, ist das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Künstler ist verpflichtet die Entwicklung der zarten Sprosse des Guten zu unterstützen und Verständnis, Güte und ewige Werte zu fördern.